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07.07.2024 /22:43:15
TOP-THEMA-Linke siegt überraschend bei Frankreich-Wahl - Politisches Patt droht

(Neu: Attal bietet Rücktritt an, Euro-Kurs)

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Linkes Lager siegt überraschend



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Im Parlament droht ein Patt



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Melenchon: Volksfront mit Regierungsbildung beauftragen



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Euro gibt nach





- von Gabriel Stargardter und Tassilo Hummel und Reinhard Becker

Paris/Berlin, 07. Jul (Reuters) - Frankreich droht nach
dem überraschenden Wahlsieg der Linken ein Patt im Parlament und
politische Instabilität. Die Neue Volksfront (Nouveau Front
Populaire, NFP) fuhr zwar laut Demoskopen bei der Stichwahl am
Sonntag den Sieg ein, verfehlte eine absolute Mehrheit aber
deutlich. Sie kann Meinungsforschern zufolge mit 172 bis 215
Sitzen im 577 Mandate umfassenden Parlament rechnen. Das
Mitte-Lager von Präsident Emmanuel Macron, der nicht zur Wahl
stand, stellt 150 bis 180 Abgeordnete. Eine faustdicke
Überraschung war das schlechte Abschneiden des rechten und
europaskeptischen Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen,
der noch in der ersten Wahlrunde triumphiert hatte. Nun dürfte
er laut den Projektionen mit 115 bis 155 Mandaten nur auf Platz
drei landen.

Die unklaren politischen Perspektiven im dem EU-Kernland lastete auf dem Euro: Sei Kurs sank am Wahlabend im asiatischen Handel um 0,2 Prozent auf 1,08 Dollar. Ministerpräsident Gabriel Attal von Macrons Partei "Renaissance" sagte, er werde dem Präsidenten am Montagmorgen seinen Rücktritt anbieten. Macron will laut Präsidialamt zunächst die Wahlergebnisse auswerten, bevor er Entscheidungen trifft. Der Chef der Linkspopulisten, Jean-Luc Melenchon, forderte Macron auf, die Niederlage seines Lagers einzugestehen. Er solle die neue Volksfront mit der Regierungsbildung beauftragen. Spitzenvertreter der neuen Volksfront, die aus Sozialisten, der linkspopulistischen Partei "Das unbeugsame Frankreich" und den Grünen besteht, erklärten, sie würden Macron keine politischen Zugeständnisse machen.

"VIVE LA REPUBLIQUE"
 
"Vive la Republique", erklärte EU-Wirtschafts- und
Währungskommissar Paolo Gentiloni in einer ersten Reaktion auf
den Wahlausgang. Die Linke und das Mitte-Lager hatten in der
Stichwahl in einer sogenannten republikanischen Front auf
Wahlkreisebene Absprachen getroffen, um nach dem Rechtsruck in
der ersten Runde einen Durchmarsch des RN zu verhindern. Dies
gelang ihnen offenbar. Ohne eine absolute Mehrheit eines Lagers,
die im Parlament bei 289 Sitzen liegt, gilt eine
Regierungsbildung jedoch als schwierig - dies auch wegen der
politischen Polarisierung im Parlament.
"Die massive Wahlbeteiligung hat die Linke überraschend
klar gestärkt, so dass ein Premierminister aus dem Lager des
Nouveau Front Populaire absehbar ist", meint Marc Ringel,
Direktor des Deutsch-Französischen Instituts (DFI). Insgesamt
habe die Vernunft gesiegt und eine Regierung, die sich an einem
vorgegebenen Programm beziehungsweise einer Art
Koalitionsvertrag orientiere, scheine wahrscheinlich: "Dennoch:
Auch wenn die Wahlen nun vorbei sind, haben sie tiefe Gräben
zwischen den politischen Lagern vertieft, die so schnell nicht
zu kitten sind. Dies zu versuchen, wird vordringlichste Aufgabe
in den nächsten Monaten sein."

Präsident Macron hatte die Neuwahl nach dem Triumph des RN bei der Europawahl ausgerufen. "Alles in allem hat Emmanuel Macrons riskante Wette keine klare Parlamentsmehrheit hervorgebracht. Er befindet sich nun in der gleichen Situation wie zuvor, in der seine Partei keinen Rückhalt hat, um ehrgeizige Gesetzesvorhaben durchsetzen zu können", so die Einschätzung von Cornelia Woll, der Präsidentin der Hertie School in Berlin. Es sei somit weiter nicht sicher, dass er im September seinen Haushalt durchbringen könne, ohne dies durch Sonderregelungen zu erzwingen und ein Misstrauensvotum zu riskieren.

"BRÜSSEL UND BERLIN KÖNNEN AUFATMEN"

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte sich nach der ersten Wahlrunde sehr besorgt über die Lage in Frankreich geäußert. Er drücke die Daumen, dass es keine Regierung gebe, die von einer rechtspopulistischen Partei geführt werde. "Das Schlimmste wurde vermieden", sagte nun Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Jetzt komme es in Frankreich auf Flexibilität und Kompromissfähigkeit der demokratischen Parteien an. Die Grünen-Europaabgeordnete Anna Cavazzini sagte, Brüssel und Berlin könnten aufatmen, da Le Pens RN keine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung erreichen konnte.

RN-Parteichef Bardella hatte auf eine absolute Mehrheit gesetzt. Er sagte am Wahlabend, Frankreich gerate in die Fänge der radikalen Linken. Nach Ansicht Le Pens hat ihre Partei nur wegen taktischer Absprachen ihrer Gegner verloren. Macron befinde sich in einer unhaltbaren Lage.

Der Chef der Sozialisten, Olivier Faure, sagte vor Anhängern, man habe nur einen Kompass: "Das Programm der neuen Volksfront." Dies bedeute, dass die Politik Macrons nicht fortgesetzt werden dürfe. Dies gelte vor allem für die Rentenreform. Zu den Forderungen des NFP gehört auch eine zehn-prozentige Erhöhung der Beamtengehälter, die Bereitstellung kostenloser Schulessen sowie eine Erhöhung der Wohnbeihilfen um zehn Prozent.

(Mitarbeit: Dominique Vidalon und Andreas Rinke, geschrieben von Reinhard Becker, redigiert von Ralf Bode. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)

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