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22.10.2024 /09:25:00
ANALYSE-Unabhängiger von China werden? Indien ist der Schlüssel zum Erfolg

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Kein Land wächst so stark wie Indien, Bedeutung wird zunehmen



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Zahlreiche deutsche Unternehmen investieren in Indien



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Gibt zwar Hürden, viele Konzerne aber sehr zufrieden



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Diese Woche Stelldichein von Politik und Wirtschaft in Neu-Delhi



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Experten: Freihandelsabkommen würde Schub geben
 
- von Christian Krämer
Berlin, 22. Okt (Reuters) - Indien ist nicht das neue
China für die mit ungewohnten Exportschwächen kämpfende deutsche
Industrie. "Das würde zu weit gehen", sagt Volker Treier,
Außenhandelschef der Deutschen Industrie- und Handelskammer
(DIHK), im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Reuters. Indien
wird aber immer wichtiger. Keine große Volkswirtschaft wächst so
schnell wie der Subkontinent. Die Perspektiven für die nächsten
Jahre sind glänzend. Indien dürfte daher entscheidend sein, ob
es gelingen kann, die große Abhängigkeit der deutschen Industrie
von China zu überwinden. "Wenn das De-Risking von China
funktionieren soll, ist Indien der Schlüssel dafür - wegen der
Größe des Marktes und der wirtschaftlichen Dynamik im Land",
sagt Treier.

Donnerstag bis Samstag treffen sich hochrangige Vertreter der deutschen Wirtschaft in Neu-Delhi zur Asien-Pazifik-Konferenz. In der indischen Hauptstadt geht es dann um neue Geschäftschancen in der fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt, die Ende des Jahrzehnts hinter den USA und China den dritten Platz belegen dürfte - und damit Deutschland und Japan überholt. Ein Großteil des Bundeskabinetts wird zudem am Freitag in Neu-Delhi an den deutsch-indischen Regierungskonsultationen teilnehmen, bei denen es auch um ein Handelsabkommen sowie Kooperationen im Rüstungsbereich gehen dürfte.

DREHSCHEIBE INDIEN
Indien wird an Bedeutung gewinnen, ist Treier überzeugt.
"Gemessen am Handelsvolumen kann Indien zum Ende des Jahrzehnts
realistischerweise auf etwa die Hälfte des deutschen Handels mit
China kommen." Der Bestand deutscher Direktinvestitionen in
Indien habe 2022 bei etwa 25 Milliarden Euro gelegen. "Das sind
ungefähr 20 Prozent des Volumens, das in China investiert wird.
Das könnten Ende des Jahrzehnts 40 Prozent sein. China wird
nicht verschwinden, Indien aber wichtiger werden für deutsche
Unternehmen."

Beispiel DHL <DHLn.DE>: Für den Logistik-Riesen aus Bonn ist Indien ein Wachstumsmarkt und eine wichtige Drehscheibe in Asien. Seit 1979 ist der DHL bereits vor Ort aktiv, in der Express-Sparte sind dort aktuell mehr als 3800 Menschen beschäftigt. Im Geschäft rund um Lagerhaltung - DHL Supply Chain - sind es sogar mehr als 19.000 Mitarbeiter. Die Tochter will bis 2026 eine halbe Milliarde Euro auf dem Subkontinent investieren, um ihr Lager-Netzwerk auszubauen. Geplant ist, die Lagerhaltung und auch Fertigung für Kunden etwa aus dem Bereich E-Commerce, Einzelhandel oder Maschinenbau zu übernehmen. "Wir sehen im Asien-Pazifik-Raum ein enormes Wachstumspotenzial, woran Indien einen beträchtlichen Anteil hat", so Spartenchef Oscar de Bok. Der für Logistiker zentrale E-Commerce-Markt auf dem Subkontinent könnte Berechungen zufolge bis 2026 auf ein Geschäftsvolumen von 163 Milliarden Dollar kommen.

"Sehr erfreulich ist, dass ein hoher Anteil der öffentlichen Investitionen in die Verbesserung der bislang unzureichenden Infrastruktur Indiens fließt", ergänzt Ralph Wiechers vom Maschinenbauverband VDMA. "Dies dürfte die im internationalen Vergleich hohen Logistikkosten für produzierende Unternehmen in Indien senken."

NICHT MIT DEUTSCHEN REZEPTEN KOMMEN

Während einige Firmen auf den riesigen Markt mit mehr als 1,4 Milliarden Menschen abzielen, werden andere von niedrigen Produktionskosten, gleichzeitig geschultem Personal und vielen Innovationen angelockt. Jonathan Brown, Partner bei der Unternehmensberatung BCG, erklärt das Erfolgsrezept: "Man sollte auch immer für den indischen Markt produzieren. Der Absatzmarkt ist wahnsinnig groß. Man muss sich aber stark anpassen, um der Bürokratie Herr zu werden und die Unterschiede zwischen den Bundesstaaten zu bewältigen." Wichtig sei es, lokale und eigenständige Teams aufzubauen, die unter indischer Führung seien. "Auch lokale Komponenten sollte man verwenden." Die Hürden, um im Markt Fuß zu fassen, seien hoch. "Wenn man aber drin ist, hat man großes Potenzial. Was nicht geht, ist deutsche Produkte einfach so vor Ort zu verkaufen." Man müsse den lokalen Markt verstehen und mit eigenen Produkten bedienen.

Ähnlich sieht dies Friedolin Strack, Sprecher der Geschäftsführung beim Asien-Pazifik-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft: "Indien will nicht der Ersatz für China sein. Man sollte aus Überzeugung kommen, nicht nur auf der Suche nach Alternativen zu China."

Vertreten sind bisher vor allem Auto-Hersteller und Zulieferer, ebenso Elektronik- und Chemiefirmen. "Beim Maschinenbau gibt es noch Potenzial", sagt BCG-Experte Brown, der früher selbst in Indien gelebt hat. Der Kölner Motorenbauer Deutz <DEZG.DE> expandiert beispielsweise gerade mit einer Produktion in Alwar südlich der Hauptstadt. Dort gefertigte Motoren sollen in ganz Asien vertrieben werden. Im Juli vereinbarten die Deutschen eine Kooperation mit Tafe aus der südindischen Stadt Chennai, dem drittgrößten Traktorhersteller der Welt. Die Tochter Tafe Motors soll bis zu 30.000 Deutz-Motoren in Lizenz bauen. Weitere Kooperationsmöglichkeiten werden bereits geprüft.

Auch Volkswagen <VOWG_p.DE>, Europas größter Autobauer und besonders abhängig von China, verhandelt derzeit über zusätzliche Partnerschaften in Indien. Ziel sei eine gemeinsame Produktion von Fahrzeugen. Indien habe auch wegen des Handelsstreits zwischen den USA und China großes Potenzial, so VW-Finanzchef Arno Antlitz.

DEUTSCHE FIRMEN WOLLEN INVESTITIONEN IN INDIEN AUSWEITEN

Der Großteil der deutschen Unternehmen in Indien ist sehr zufrieden mit den Engagements vor Ort, ganz anders oft als derzeit mit den Aktivitäten zuhause, wo zuletzt viele Investitionen ausblieben. In einer aktuellen KPMG-Studie in Zusammenarbeit mit der Deutsch-Indischen Handelskammer gaben 78 Prozent der befragten Firmen an, in diesem Jahr mit einem Umsatzanstieg in Indien zu rechnen. 59 Prozent der Betriebe planen eine Ausweitung ihrer Investitionen. Zum Vergleich: 2021 waren dies nur 36 Prozent gewesen. KPMG-Experte Andreas Glunz sagt, innerhalb Asiens werde Indien immer stärker das Hauptziel von Investitionen. Als Hindernisse gelten neben der Bürokratie auch Korruption und Defizite in der Infrastruktur. 45 Prozent der deutschen Firmen gaben an, die Produktion für den lokalen Markt werde in den nächsten fünf Jahren besonders wichtig.

Unzufrieden ist die deutsche Wirtschaft mit der EU, die nach Unterbrechungen derzeit wieder über ein Freihandelsabkommen mit Indien verhandelt. "Wir brauchen mehr Pragmatismus in der Handelspolitik. Wir müssen wieder etwas mehr auf ökonomische Ziele schauen", sagt Asien-Experte Strack mit Blick auf Bestrebungen, Klimaschutzziele und Nachhaltigkeitsvorgaben in den Verträgen unterzukriegen. Die EU-Kommission sollte auch ihre Pläne so ändern, dass am Ende nicht alle 27 EU-Mitglieder ein Abkommen ratifizieren müssen, sondern nur die EU-Institutionen. "Knackpunkt ist auch hier der Agrarsektor. Die Industrie könnte damit leben, wenn der Bereich ausgeklammert wird, Indien wird dies aber tendenziell nicht wollen."

Die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen seien zäh, sagt BCG-Experte Brown. "Das dürfte sich auch nicht so schnell ändern." Eine Belastung sei der Streit bei der Welthandelsorganisation WTO wegen indischer Zölle, unter anderem auf Mikrochips und Elektronik. Nötig sei jetzt ein "deutlicher Anstoß". Den könnte es am Freitag geben, wenn Bundeskanzler Olaf Scholz mit dem indischen Ministerpräsidenten Narendra Modi zusammentrifft.

(Bericht von Christian Krämer, Mitarbeit von Matthias Inverardi, redigiert von Sabine Wollrab. Bei Rückfragen wenden Sie sich an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)

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