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03.07.2024 /09:50:00
ANALYSE-Frankreich-Wahl vor ungewissem Ausgang - Rechter Durchmarsch oder Patt

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Parlamentswahl entscheidet sich in zweiter Runde am Sonntag



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Le Pens RN strebt absolute Mehrheit an



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Gegner der Rechten formieren Abwehrbollwerk



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Auch unklare Mehrheitsverhältnisse im Parlament möglich





- von Sudip Kar-Gupta und Dominique Vidalon und Reinhard Becker

Paris/Berlin, 03. Jul (Reuters) - Frankreich steht bei
der Parlamentswahl am Sonntag vor einem Richtungsentscheid über
die politische Zukunft des Landes. Nach der schweren Schlappe
des Mitte-Lagers von Präsident Emmanuel Macron in der ersten
Runde greift der rechte Rassemblement National (RN) von Marine
Le Pen in der Stichwahl nach der absoluten Mehrheit. Damit würde
das EU-Kernland erstmals von einer europaskeptischen Partei
regiert, die Deutschland distanziert gegenübersteht. Der RN
lehnt eine weitere Integration der EU ab und möchte Brüssel die
Mittel kürzen. Sollte der RN sein Ziel verfehlen und es zu einem
Patt kommen, also unklare Mehrheitsverhältnisse im Parlament,
droht Instabilität - zumal Neuwahlen binnen eines Jahres
ausgeschlossen sind.

Der RN erhielt im ersten Durchgang 33 Prozent der Stimmen. Der Zusammenschluss von Linken und Grünen - die Neue Volksfront (NFP) - kam auf 28 und das zentristische Lager von Macron auf 20 Prozent. Le Pen hofft, dass der RN-Parteivorsitzende Jordan Bardella nun Regierungschef wird. In der ersten Runde am 30. Juni konnten sich Kandidaten ein Mandat sichern, wenn sie mehr als die Hälfte der gültigen Stimmen erreichten - so auch Le Pen in ihrem Wahlkreis in Nordfrankreich. Im zweiten Wahlgang reicht die einfache Mehrheit: Wer die meisten Stimmen erhält, gewinnt.

In Berlin schrillen mit Blick auf einen Rechtsschwenk des Nachbarn jenseits des Rheins die Alarmglocken. Außenministerin Annalena Baerbock warnte: "Es kann niemanden kalt lassen, wenn bei uns selbst, zum Beispiel bei der Europawahl, oder bei unserem allerengsten Partner und besten Freund eine Partei weit vorne liegt, die in Europa das Problem und nicht die Lösung sieht." Auch Bundeskanzler Olaf Scholz ist in Sorge: Die Situation sei "bedrückend", sagte er in Berlin: Er drücke die Daumen, dass es keine Regierung gebe, die von einer rechtspopulistischen Partei geführt werde.

ANTI-DEUTSCHE TÖNE

Le Pen stimmt gerne anti-deutsche Töne an, während der bekennende Europäer Macron trotz einiger Differenzen mit Berlin auf die deutsch-französische Achse setzt. Jacob Ross und Nicolas Teterchen von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) verweisen darauf, dass mit der Kritik an deutscher Politik häufig der Vorwurf an die Regierung in Paris einhergehe, sich den deutschen Interessen zu unterwerfen: "Etwa in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, oder, wie zuletzt häufig vernommen, in der Energiepolitik. 2015 nannte Le Pen den damaligen Präsidenten Francois Hollande einen Vizekanzler Angela Merkels." Der frühere sozialistische Staatschef hat sich nun wieder für die Linksfront in die Wahlschlacht geworfen.

In Projektionen werden dem RN und seinen Verbündeten zwischen 230 und 280 Sitze in der 577 Mandate umfassenden Assemblee Nationale vorhergesagt. Damit würden sie die absolute Mehrheit von 289 Mandaten verpassen. Durch eine sich abzeichnende Kooperation des Macron-Lagers mit der NFP würden die Chancen des RN weiter sinken, meint Commerzbank-Ökonom Ralph Solveen: "Allerdings dürfte es kaum möglich sein, aus diesen beiden Lagern eine Koalition für eine stabile Regierungsmehrheit zu bilden. Hierfür sind die Vorstellungen gerade auch in der Wirtschaftspolitik zu unterschiedlich." Der RN will die Mehrwertsteuer auf Energie von 20 Prozent auf 5,5 Prozent senken. Laut der Ratingagentur S&P könnte dies Frankreichs Bonität weiter belasten.

PATT KÖNNTE ZU TECHNOKRATEN-REGIERUNG FÜHREN

Es herrschte zunächst Verwirrung darüber, ob Macrons Verbündete am Sonntag zugunsten besser platzierter Kandidaten zurückziehen würden, wenn diese für die linkspopulistische Partei Unbeugsames Frankreich (LFI) von Jean-Luc Melenchon antreten. Allerdings sagte Macron bei einem Ministertreffen hinter verschlossenen Türen, es habe oberste Priorität, den RN von der Macht abzuhalten. LFI-Kandidaten könnten daher bei Bedarf unterstützt werden. Mehr als 200 Gegner des RN haben lokalen Medienberichten zufolge ihre Kandidatur für die zweite Runde aus taktischen Gründen zurückgezogen, um den Durchmarsch der Rechten zu verhindern. Die "republikanische Front"- eine Art Brandmauer gegen Rechts - hat schon früher funktioniert. So auch 2002, als sich Wähler aller Couleur hinter dem Konservativen Jacques Chirac scharten, um Le Pens Vater Jean-Marie im Präsidentschaftswahlkampf zu schlagen.

Sollten die Wahlen nicht zu klaren Mehrheitsverhältnissen führen, hat Ministerpräsident Gabriel Attal einen Vorschlag parat: Demnach könnten Konservative, Linke und die Parteien der Mitte Ad-hoc-Allianzen bilden, um im Parlament über einzelne Gesetzesvorhaben abzustimmen. Die Unterstützung des eigenen Lagers dürfte für Attal keinesfalls ausreichen, meint der Chefökonom der Axa Group, Gilles Moëc: "Klar ist, dass für die Macronisten keinerlei Aussicht darauf besteht, auch nur in die Nähe einer Mehrheit zu gelangen."

Ein Ausweg aus einer möglichen Politikblockade könnte auch eine Art "Technokratenregierung" sein, wie es sie in Italien unter Mario Monti oder Mario Draghi gegeben hat. "Anders als in Italien könnte eine solche Regierung allerdings kaum auf die Kooperation der großen Parteien-Blöcke setzen", sagt Commerzbank-Ökonom Solveen. Fortschritte bei den strukturellen Problemen Frankreichs würde es also in den kommenden drei Jahren genauso wenig geben wie eine Konsolidierung des Haushalts.

(Bericht von Reinhard Becker, Mitarbeit Tassilo Hummel, Andreas Rinke, Alexander Ratz, Amanda Cooper, redigiert von Christian Rüttger. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)

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