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02.07.2024 /16:51:26
TOP-THEMA-Deutschland und Polen sehen sich jetzt als Stabilitätsanker der EU

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Beide Regierungen beschließen in Warschau Aktionsplan



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Tusk: Schließen Reihen gegen EU-Kritiker in Europa



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Enge Kooperation bei Sicherheit und Rüstung geplant



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Scholz: Keine Reparationen, aber Deutschland wird NS-Opfern helfen





(Details, Hintergrund)
- von Andreas Rinke
Warschau, 02. Jul (Reuters) - Deutschland und Polen
wollen die Eiszeit beenden, die es unter der
nationalkonservativen PiS-Regierung zwischen beiden Ländern gab.
Bei den ersten Regierungskonsultationen seit sechs Jahren
beschlossen beide Kabinette am Dienstag in Warschau einen
40-seitigen Aktionsplan, der die Zusammenarbeit bei zahlreichen
Themen vertiefen soll. Nach dem Sieg des rechtsnationalen RN in
der ersten Runde der französischen Parlamentswahlen bezeichneten
sowohl der polnische Ministerpräsident Donald Tusk als auch
Kanzler Olaf Scholz beide Länder als Garanten für Stabilität in
der EU.

Tusk warnte davor, dass antieuropäische Kräfte in etlichen Ländern stärker geworden seien - nicht nur in Frankreich. "Das Ergebnis der französischen Wahl ist nicht der einzige ziemlich kritische Moment, was die gesamte westliche Welt anbelangt." Die moderaten Kräfte müssten zusammenarbeiten, aber Antworten auf die Sorgen der Menschen finde. Dies erfordere einen "wirksamen Kampf gegen illegale Migration, Sicherheit und die Erhöhung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit".

Zentrales Thema der bilateralen Zusammenarbeit soll zum einen Verteidigung und Rüstung sein. Scholz bekannte sich in Polen zur deutschen Verantwortung auch für den Schutz der Nato-Ostgrenze, die Tusk als "Schutzschild Ost" bezeichnet. "Die Sicherheit Polens ist auch Deutschlands Sicherheit. Dafür stehen wir ein als Nachbarn, als Alliierte in der Nato und als Partner in der Europäischen Union", sagte Scholz. "In diesem Bewusstsein werden wir unsere Zusammenarbeit im Bereich Sicherheit und Verteidigung gezielt ausbauen und unsere Fähigkeiten bündeln und miteinander abstimmen." Konkret heiße dies, dass Deutschland eine Führungsrolle beim Schutz des Ostseeraums übernehme, in Litauen Soldaten stationiere und sich am Air-Policing der baltischen Staaten beteilige.

Tusk sagte , es sei wichtig, dass Deutschland und die EU nun die Sicherheit der osteuropäischen Partner als ihre eigene Aufgabe ansähen. Scholz forderte den Ausbau der Verkehrswege nach Polen, was wegen der nötigen Versorgung von Nato-Truppen auch eine militärische Bedeutung habe. Polen wiederum sagt in dem Aktionsplan zu, dass es eine Beteiligung an dem von Deutschland initiierten Luftverteidigungssystem ESSI hat. Scholz betonte, es wollten sich bereits mehr als 20 europäische Länder beteiligen und es wäre gute, dieselben Systeme zu nutzen.

Im Vorfeld hatte es in einigen Medien Spekulationen über konkrete deutsche Hilfen für das polnische Militär gegeben. Tusk widersprach dem mit dem Hinweis, dass Polen keine deutschen Panzer brauche. Wichtiger sei die gemeinsame Analyse der Bedrohungslage. In dem Aktionsplan wird Russland als die "unmittelbarste" und größte Gefahr für die Sicherheit in Europa bezeichnet. Polen gebe bereits vier Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Verteidigung aus. Aber selbst wenn es zehn Prozent ausgeben würde, brauche es immer noch die Solidarität seiner Partner. Deshalb sei es so wichtig, dass Deutschland nun zu der Sicherheitsverantwortung bekenne.

THEMENPALETTE DER ZUSAMMENARBEIT - ABER KEINE REPARATIONEN

Im dem Aktionsplan werden auch viele andere Themen genannt, in denen man enger zusammenarbeiten will. "Deutschland und Polen sind gute Nachbarn, enge Partner und verlässliche Freunde", sagte Scholz. "Wir wollen eine neue Dynamik schaffen für unsere Zusammenarbeit."

Auch die EU-Zusammenarbeit beider Staaten soll besser koordiniert werden. Beide wollen eine Erweiterung der EU und eine Reform der bestehenden Strukturen. Auch dies bedeutet eine Abkehr von der früheren PiS-Regierung, die oft im Konflikt mit der EU-Kommission und den Partner stand. Tusk betonte nun, dass Rechtsstaatlichkeit die Basis der Zusammenarbeit in der EU sei.

Sowohl Tusk als auch Scholz sprachen das im bilateralen Verhältnis heikle Thema von Reparationen an. Die frühere PiS-Regierung hatte 1,3 Billion Euro Entschädigung von Deutschland wegen der Verbrechen in der NS-Zeit in Polen gefordert, was die Bundesregierung ablehnt. Scholz und Tusk verwiesen auf die Rechtslage, nach der Polen offiziell auf Reparationen verzichtet habe. "Deutschland wird sich (...) auch um Maßnahmen zur Unterstützung für die noch lebenden Opfer des deutschen Angriffs und der Besatzung in den Jahren 39 bis 45 bemühen", sagte Scholz aber. Es könnte aber um eine Summe von rund 200 Millionen Euro gehen.

Tusk betonte auf Nachfragen, dass er nicht enttäuscht sei, dass der Aktionsplan keine Zahlen nennt, sondern er im Gegenteil die Geste der Bundesregierung schätze. "Es gibt keinen Geldbetrag, der das alles entschädigen könnte, was passiert ist im Zweiten Weltkrieg", betonte er. "Wir sind inmitten dieses langen Prozesses der Normalisierung zunächst der deutsch-polnischen Beziehungen, dann des Aufbaus einer gemeinsamen europäischen Familie." "Perspektivisch am glaubwürdigsten" sei ohnehin, dass auch Deutschland nun Verantwortung für Polens Sicherheit übernehmen wolle. "Das heißt, Deutschland ist bereit dazu, dass es viel mehr Verantwortung nehmen will für die Sicherheit des Kontinents, dass es keinen Krieg geben wird bei uns und in Europa."

(Mitarbeit: Barbara Erling, Marek Strzeleck und Miranda Murray. Redigiert von Ralf Bode. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)

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