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02.10.2024 /08:00:00
CHRONIK-Die Konflikte im Gazastreifen bis heute

02. Okt (Reuters) -

Der Gazastreifen liegt im Südosten des Mittelmeeres an uralten Handels- und Seerouten und ist seit langer Zeit umkämpft. Vom 16. Jahrhundert bis 1917 gehörte die Küstenregion meist zum Osmanischen Reich und wurde im Ersten Weltkrieg von britischen Truppen eingenommen. Anschließend wurde es Teil des britischen Mandatsgebiets Palästina. Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts gelangte der Gazastreifen unter britische, ägyptische sowie israelische Militärherrschaft und ist heute ein abgeriegeltes Gebiet, in dem rund 2,3 Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser leben, die meisten von ihnen Flüchtlinge. Im Folgenden einige der wichtigsten Etappen der jüngeren Geschichte des Gazastreifens.



1948 - ENDE DER BRITISCHEN HERRSCHAFT

Als die britische Kolonialherrschaft in Palästina Ende der 1940er Jahre endete, verschärfte sich die Gewalt zwischen Juden und Arabern. Sie gipfelte im Mai 1948 im Krieg zwischen dem neu gegründeten Staat Israel und seinen arabischen Nachbarn. Zehntausende Palästinenser suchten Zuflucht im Gazastreifen, nachdem sie geflohen oder aus ihren Häusern vertrieben worden waren. Die Massenvertreibung bezeichnen die Palästinenser als Nakba - Arabisch für Katastrophe. Die einfallende ägyptische Armee hatte einen schmalen 40 Kilometer langen Küstenstreifen erobert, der von der Halbinsel Sinai bis knapp südlich von Aschkelon in Israel reichte. Durch den Zustrom von Flüchtlingen verdreifachte sich die Bevölkerung auf rund 200.000.

ÄGYPTISCHE MILITÄRHERRSCHAFT

Ägypten hielt den Gazastreifen zwei Jahrzehnte lang unter einem Militärgouverneur und erlaubte den Palästinensern, in Ägypten zu arbeiten und zu studieren. Bewaffnete palästinensische Fedajin (auf Deutsch etwa "die sich Opfernden"), viele von ihnen Flüchtlinge, griffen Ziele in Israel an. Es folgten Vergeltungsmaßnahmen.

Die Vereinten Nationen gründeten das Flüchtlingshilfswerk UNRWA, das heute 1,6 Millionen registrierte palästinensische Flüchtlinge im Gazastreifen sowie in Jordanien, im Libanon, in Syrien und im Westjordanland betreut.

1967 - KRIEG UND ISRAELISCHE MILITÄRBESATZUNG

Israel eroberte den Gazastreifen im Nahostkrieg von 1967. Eine israelische Volkszählung in diesem Jahr ergab, dass das Gebiet 394.000 Einwohnerinnen und Einwohner hatte, mindestens 60 Prozent von ihnen waren Flüchtlinge.

Nach dem Abzug der Ägypter nahmen viele palästinensische Arbeiter Jobs in der Landwirtschaft, im Baugewerbe und Dienstleistungssektor in Israel an, zu denen sie damals leichten Zugang hatten. Israelische Truppen verwalteten das Gebiet und bewachten die jüdischen Siedlungen, die Israel in den folgenden Jahrzehnten errichtete. Diese wurden zur Ursache wachsender palästinensischer Proteste.

1987 - ERSTE INTIFADA UND GRÜNDUNG DER HAMAS

Zwanzig Jahre nach dem Krieg von 1967 starteten die Palästinenser ihre erste Intifada - ihren ersten Aufstand. Die Intifada begann im Dezember 1987 nach einem Verkehrsunfall, bei dem ein israelischer Lastwagen mit einem Fahrzeug kollidierte, das palästinensische Arbeiter im Flüchtlingslager Dschabalja transportierte. Vier von ihnen starben. Es folgten Proteste, bei denen Steine geworfen wurden, und Streiks.

Die in Ägypten beheimatete Muslimbruderschaft nutzte die aufgebrachte Stimmung und gründete einen bewaffneten palästinensischen Zweig, die Hamas, mit Machtbasis im Gazastreifen. Die Hamas, deren Ziel die Zerstörung Israels und die Wiederherstellung der islamischen Herrschaft in dem von ihr als besetzt betrachteten Palästina war, wurde zum Rivalen von Jassir Arafats säkularer und gemäßigter Fatah-Partei, die die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) anführte.

1993 - OSLOER FRIEDENSABKOMMEN UND TEILAUTONOMIE

Israel und die Palästinenser unterzeichneten 1993 ein historisches Friedensabkommen, das zur Gründung der Palästinensischen Autonomiebehörde führte. Im Rahmen des Übergangsabkommens erhielten die Palästinenser zunächst begrenzte Kontrolle über Gaza und Jericho im Westjordanland. Arafat kehrte nach Jahrzehnten im Exil in den Gazastreifen zurück.

Der Oslo-Prozess gab der neu geschaffenen Palästinensischen Autonomiebehörde eine gewisse Selbstbestimmung und sah die Eigenstaatlichkeit nach fünf Jahren vor. Doch dazu kam es nie. Israel warf den Palästinensern vor, Sicherheitsabkommen nicht einzuhalten. Die Palästinenser waren über den anhaltenden israelischen Siedlungsbau auf ihrem Gebiet empört.

Die Hamas und der ebenfalls radikale Islamische Dschihad versuchten, mit Bombenanschlägen den Friedensprozess zu gefährden. Daraufhin schränkte Israel die Bewegungsfreiheit der Palästinenser aus dem Gazastreifen heraus weiter ein. Die Hamas reagierte auch auf die wachsende palästinensische Kritik an Korruption, Vetternwirtschaft und Misswirtschaft im inneren Zirkel Arafats.

2000 - ZWEITE INTIFADA

Im Jahr 2000 erreichten die israelisch-palästinensischen Beziehungen mit dem Ausbruch der zweiten Intifada einen Tiefpunkt. Sie läutete eine Zeit der Selbstmordattentate und bewaffneten Angriffe durch Palästinenser sowie israelischer Luftangriffe, Zerstörungen, Sperrzonen und Ausgangssperren ein.

Ein Opfer war der internationale Flughafen des Gazastreifens - der einzige in den Autonomiegebieten und in der Nähe von Rafah im Süden des Gazastreifens gelegen. Er ist ein Symbol für die gescheiterten palästinensischen Hoffnungen auf wirtschaftliche Unabhängigkeit und war die einzige direkte Verbindung der Palästinenser zur Außenwelt, die nicht von Israel oder Ägypten kontrolliert wurde. Der 1998 eröffnete Flughafen wurde von Israel als Sicherheitsbedrohung angesehen. Es zerstörte die Radarantenne und Landebahn wenige Monate nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf die USA.

Ein weiteres Opfer war die Fischereiindustrie, eine Einnahmequelle für Zehntausende Palästinenser. Die israelische Regierung verkleinerte die Fischereizone des Gazastreifens. Die Einschränkung sei notwendig, um Boote von Waffenschmugglern zu stoppen, argumentierte sie.

2005 ? ISRAEL RÄUMT SEINE SIEDLUNGEN IM GAZASTREIFEN

Im August 2005 zog Israel all seine Soldaten und Siedler aus dem Gazastreifen ab, der zu diesem Zeitpunkt von der Außenwelt vollständig abgeschottet war. Die Palästinenser rissen die verlassenen Gebäude und die Infrastruktur ab. Die Räumung der Siedlungen führte zu größerer Bewegungsfreiheit innerhalb des Gazastreifens. Eine regelrechte "Tunnelwirtschaft" florierte, als bewaffnete Gruppen, Schmuggler und Unternehmer in kürzester Zeit Dutzende von Tunneln nach Ägypten gruben.

Durch den Abzug Israels wurden auch Fabriken, Gewächshäuser und Werkstätten aus den Siedlungen zerstört, in denen einige Palästinenser beschäftigt waren.

2006 - ISOLATION UNTER DER HAMAS

Im Jahr 2006 errang die Hamas einen Überraschungssieg bei der palästinensischen Parlamentswahl und übernahm die vollständige Kontrolle über den Gazastreifen, nachdem sie die Truppen von Arafats Nachfolger, Präsident Mahmud Abbas, in einem kurzen Bürgerkrieg besiegt hatte.

Große Teile der internationalen Gemeinschaft kürzten die Hilfe für die Palästinenser in dem von der Hamas kontrollierten Gebiet, weil sie sie als Terrororganisation einstuften.

Israel hinderte Zehntausende palästinensische Arbeiter daran, ins Land zu kommen, und entzog ihnen damit eine wichtige Einnahmequelle. Israelische Luftangriffe legten das einzige Elektrizitätswerk im Gazastreifen lahm, großflächige Stromausfälle waren die Folge. Aus Sicherheitsgründen verhängten Israel und Ägypten zudem strengere Beschränkungen für den Personen- und Warenverkehr über die Grenzübergänge zum Gazastreifen.

Die ehrgeizigen Pläne der Hamas, den wirtschaftlichen Schwerpunkt des Gazastreifens von Israel abzuwenden, scheiterten, bevor ihre Umsetzung überhaupt begonnen hatte.

Der vom Militär unterstützte ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi, der 2014 an die Macht kam, sah in der Hamas eine Bedrohung. Er ließ die Grenze zum Gazastreifen schließen und die meisten Tunnel sprengen. Der Streifen war damit erneut isoliert, seine Wirtschaft stürzte ab.

Die Wirtschaft des Gazastreifens hat unter dem Teufelskreis aus Konflikten, Angriffen und Vergeltungsschlägen zwischen Israel und militanten palästinensischen Gruppen immer wieder gelitten. Zu den schwersten Kämpfen vor 2023 zählten die Ereignisse im Jahr 2014, als die Hamas und andere Gruppen Raketen auf Städte im Herzen Israels abfeuerten. Israel reagierte mit Luftangriffen und Artilleriebombardements, die ganze Stadtteile im Gazastreifen verwüsteten. Mehr als 2100 Palästinenserinnen und Palästinenser, überwiegend Zivilisten, wurden dabei getötet. Israel sprach von 73 Todesopfern auf seiner Seite: 67 Soldaten und sechs Zivilisten.

7. OKTOBER 2023 - ÜBERRASCHUNGSANGRIFF AUF ISRAEL

Am 7. Oktober starteten Hamas-Kämpfer und Verbündete einen überraschenden grenzüberschreitenden Angriff auf Israel aus der Luft, zu Land und zur See. Sie überwältigten die israelischen Grenztruppen. Sie wüteten in Städten, Kibbuzim und Militärstützpunkten. Sie töteten nach israelischen Angaben rund 1200 Menschen und verschleppten rund 250 Geiseln in den Gazastreifen.

Israel übte umgehend Vergeltung. Zunächst trafen den Gazastreifen die schwersten Luft- und Artillerieangriffe seiner Geschichte. Wenig später startete das israelische Militär seine Bodenoffensive, nachdem es Hunderttausende Reservisten mobilgemacht und eine Blockade über den Gazastreifen verhängt hatte. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erklärte die Vernichtung der Hamas zum Ziel.

Israel wies die palästinensischen Zivilisten an, nach Süden zu fliehen, während seine Streitkräfte zunächst versuchten, die Hamas aus dem Norden zu vertreiben. Israelische Truppen lieferten sich Gefechte mit der Hamas und anderen militanten Gruppen. Die Hamas agierte aus den Ruinen und einem ausgedehnten Tunnelnetz heraus, das sie über Jahre gebaut hatte.

Israel warf der Hamas vor, ihre militärische Infrastruktur unter zivilen Gebäuden zu verstecken, um die Zivilbevölkerung als menschliche Schutzschilde zu benutzen. Palästinenser und ihre Unterstützer warfen Israel vor, unangemessene Gewalt gegen die Zivilisten anzuwenden.

KURZE WAFFENRUHE UND GEISEL-FREILASSUNG IM NOVEMBER 2023

Im November 2023 kam es zu einer kurzen Waffenruhe, in deren Verlauf Hilfslieferungen in den Gazastreifen gelangten und die Hamas einige Geiseln freiließ. Doch nach wenigen Tagen brachen die Kämpfe erneut aus. Seither stocken die von Katar, Ägypten und den USA vermittelten Verhandlungen über eine weitere Waffenruhe, die Freilassung von Geiseln und mehr Hilfe für die Zivilbevölkerung.

Im Gazastreifen wurden nach Angaben der dortigen Gesundheitsbehörde seit Beginn der israelischen Angriffe mehr als 41.600 Palästinenserinnen und Palästinenser getötet. Rund 96.400 Menschen seien verletzt worden. Tausende weitere Tote werden in den Trümmern befürchtet.

HILFSORGANISATIONEN WARNEN VOR HUMANITÄRER KATASTROPHE

Anfang 2024 erklärten Hilfsorganisationen, dass sich im Gazastreifen eine humanitäre Katastrophe abspiele und der Großteil der 2,3 Millionen Einwohner des Landes vertrieben worden sei. Infolge der Bombenangriffe waren viele Familien gezwungen, in riesige Zeltlager im Süden des Gazastreifens zu ziehen. Dort gibt es kaum Nahrung, Wasser, medizinische Versorgung, Brennstoff oder sichere Unterkünfte.

Angesichts der großen Zahl an Menschen, die sich in der Gegend um Rafah, der südlichsten Stadt des Gazastreifens, drängen, warnte die Weltgesundheitsorganisation (WHO), eine israelische Militäroffensive gegen die Stadt - wie sie Netanjahu angekündigt hat - würde eine "unvorstellbare Katastrophe" auslösen.

PROTESTE IN ISRAEL GEGEN REGIERUNG NETANJAHU
In Tel Aviv und anderen Städten in Israel kamen im April
2024 Zehntausende Menschen zusammen und protestierten gegen die
Regierung Netanjahus. Sie forderten ernsthafte Bemühungen, die
Freilassung der im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln zu
erwirken. Seither gibt es immer wieder Massendemonstrationen
gegen die israelische Regierung, die so weit rechts steht wie
keine vor ihr. Im September 2024 kam es sogar zu einem
Generalstreik.
 
VERHANDLUNGEN ÜBER WAFFENRUHE IN DER SACKGASSE
 
Israel setzte im Mai 2024 der Hamas ein Ultimatum, um
einer Waffenruhe von 40 Tagen zuzustimmen - seine Bedingung war
die Freilassung der Geiseln. Die Hamas wiederum nahm einen
Vorschlag für eine Waffenruhe von Ägypten und Katar an, den
Israel aber ablehnt. Trotz intensiver Vermittlungsbemühungen der
USA, Ägyptens und Katars gelang keine Vereinbarung. Die
indirekten Verhandlungen - Israel und Hamas sprechen nicht
direkt miteinander - steckten in der Sackgasse. Ende Mai legte
US-Präsident Biden einen neuen dreistufigen Plan für eine
Waffenruhe vor. Netanjahu lehnte ab und beharrte darauf, dass es
keine dauerhafte Waffenruhe geben könne, solange die Hamas nicht
ausgeschaltet sei.
 
Eine neue Verhandlungsrunde begann Mitte August in Doha,
führte aber nicht zu einem Ergebnis. Die Verhandlungen wurden
ausgesetzt, Mitte September wieder aufgenommen. Eine
Verständigung ist nicht absehbar.
 
ISRAELS MILITÄR IN RAFAH
 
Im Sommer 2024 rückte das israelische Militär in Rafah
vor - jener Stadt an der Grenze zwischen Gazastreifen und
Ägypten, die für zahllose Palästinenserinnen und Palästinenser
Zufluchtsort ist. Ende Mai 2024 drangen israelische Panzer
erstmals ins Zentrum von Rafah vor. Israel übernahm die
Kontrolle über den dortigen Grenzübergang nach Ägypten und den
Philadelphi-Korridor, einen etwa 14 Kilometer langen
Grenzstreifen zwischen dem Palästinensergebiet und Ägypten.
 
ISRAEL TÖTET GEZIELT HAMAS-ANFÜHRER
 
Die israelischen Sicherheitskräfte haben immer wieder
gezielt etliche Kommandeure der Hamas getötet, darunter Anfang
August 2024 Militärchef Mohammed Deif nahe Chan Junis und Ende
Juli den Politikchef Ismail Hanijeh in Teheran.

(Bericht von: Sabine Ehrhardt, Stephen Farrell, Nidal al-Mughrabi, Rosalba O'Brien, redigiert von Kerstin Dörr. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte)

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