Zürich, 15. Jan (Reuters) - Die Sogwirkung der amerikanischen Nasdaq droht die Schweizer Börse im Kampf um kapitalhungrige Biotech-Firmen ins Abseits zu drängen. Am einstigen europäischen Hotspot für Börsengänge (IPO) aus der Biotechbranche sind immer weniger Anleger bereit, die hochriskanten Wetten auf die Entwicklung eines neuen Medikaments zu finanzieren, auch weil sich viele eine blutige Nase geholt haben. Die Anziehungskraft der SIX und anderer europäischer Börsen für Biotech-Firmen habe in den letzten 20 Jahren deutlich nachgelassen, erklärt Markus Hosang, Partner der Wagniskapitalgesellschaft BioMed Partners. "Praktisch alle Firmen, die im Moment ein IPO planen, wollen an die Nasdaq."
In der IPO-Welle von 2006 lockten die europäischen Börsen noch 35 Biotech-Firmen an, drei davon die SIX, wie aus Daten von Dealogic hervorgeht. Die USA kamen auf lediglich 24 Neulinge. Doch 2012 drehte der Trend, und 2024 gingen 30 Biotech-Firmen an die Nasdaq und andere US-Börsen, fünfmal mehr als auf dem alten Kontinent. "Die USA sind für die Biotechnologiebranche mit Abstand die Nummer eins", erklärte Christian Koch von der Beteiligungsgesellschaft BB Biotech <BION.S>. Treiber sei das Zusammenspiel von Top-Universitäten, daraus hervorgehenden Start-ups, Krankenhäusern und Investoren.
In der Schweiz hakt es vor allem bei der Finanzierung, erklärt Investmentbanker Julian Herriger von Citi. "Als Schweizer finde ich das eine Tragödie. Wir haben Weltklasse-Universitäten, aber nicht die Tiefe und Vielfalt des Kapitals, um das zu unterstützen."
Jüngstes Beispiel ist die deutsch-schweizerische Veraxa Biotech. Die auf Krebstherapie spezialisierte Firma habe sich aus Bewertungsüberlegungen für einen Börsengang an der Nasdaq im laufenden Jahr entschieden, erklärt Präsident Oliver Baumann. "Der US-Markt ermöglicht den Zugang zu spezialisierten Investoren in einem wachstumsorientierten Umfeld." Gleichzeitig stärke es die globale Präsenz. An der Nasdaq sind gegenwärtig 551 Biotech-Firmen notiert, sechs davon aus der Schweiz. Auch deutsche Firmen wie die für ihren Corona-Impfstoff bekannte BioNTech <BNTX.O> oder CureVac <CVAC.O> sind an der US-Technologiebörse gelistet.
"Europa hat allgemein das Problem, dass die IPO-Landschaft extrem fragmentiert ist", sagt Hosang, dessen BioMedPartners seit 2002 je drei Firmen an die SIX und an die Nasdaq brachte. In Europa würden Biotech-Titel etwa an den Euronext-Märkten, an der SIX, in Frankfurt oder in London gehandelt. "So bleiben die Volumina subkritisch." Zudem sei die Liquidität nach einem Börsengang zu gering. Kaum eine Schweizer Bank begleite mehr Biotech-IPOs und biete nach der Notiz eine Analysten-Abdeckung.
Gleichzeitig habe die Feuerkraft der Schweizer und europäischen Fonds in den vergangenen Jahren nachgelassen. Börsenkandidaten seien zumeist auf die Beteiligung von US-Fonds angewiesen, von denen Dutzende Milliardenvolumina verwalteten, so Hosang. Doch diese würden dem Heimmarkt den Vorzug geben.
Abgesehen von Actelion, die zur wertvollsten europäischen Biotechfirma wurde und 2017 für 30 Milliarden Dollar von Johnson&Johnson <JNJ.N> geschluckt wurde, sind Erfolgsgeschichten in der Schweiz rar. Von den elf noch an der SIX notierten Biotech-Titel weisen nur drei eine positive Entwicklung auf, allen voran Cosmo <COPN.S>, deren Wert sich mehr als verdreifacht hat. Drei Firmen haben über 99 Prozent an Wert verloren und bei dreien sind es 80 Prozent Minus oder mehr. Der Nasdaq-Biotech-Index <.NBI> hat sich seit Anfang 2000 fast verfünffacht.
EY-IPO-Experte Tobias Meyer erklärt, dass die spezialisierten US-Investoren oftmals bereit seien, vorerst mehr für Biotech-Firmen zu bezahlen, weil sie ihre Risiken besser einschätzen könnten. Ein Börsengang in den USA könne allerdings auch gewichtige Nachteile mit sich bringen. "Das sind die große Konkurrenz, der Kampf um Visibilität, der ungleich schwieriger ist, und die relativ hohen zusätzlichen Kosten, die ein Cross-Border-Börsengang verursacht."
Ähnlich äußerte sich Fabian Gerber von der SIX. Während ein Börsengang in der Schweiz einschließlich der Ausgaben für Investmentbanken im Durchschnitt rund vier bis sechs Prozent des Emissionserlöses koste, könne das in den USA leicht das Doppelte sein. Zudem seien die regulatorischen Anforderungen strenger, was Haftungsrisiken mit sich bringe. "In der Schweiz ist ein Börsengang einfacher und schneller möglich." Ein bis zwei Biotechfirmen könnten 2025 an die SIX kommen, schätzt er.
Mit einem Anteil von fast 40 Prozent sind Pharma-, Vitamin- und Diagnostikfirmen die wichtigste Exportbranche der Schweiz. Ein großer Anteil entfällt dabei auf die Pharmariesen Roche <ROG.S> und Novartis <NOVN.S>, die stark von Biotechnologie abhängen. Jungfirmen dienen den Pharmakonzernen dabei als Brutkästen für spätere Umsatzrenner. Die Innovationskraft von Biotech-Firmen sei zentral für die Gesellschaft, erklärt Thorsten Pauli, Schweiz-Chef von Bank of America <BAC.N>. Diese Firmen benötigten Kapital, das sie über die Börse aufnehmen könnten. "Es wäre ein großer Gewinn für den Standort Schweiz, wenn wir künftig mehr solcher IPOs hierzulande sehen könnten." Aber die Wahrscheinlichkeit, dass ein Biotech-IPO klappe, sei in den USA deutlich höher. "Entsprechend dürften die meisten Unternehmen in Zukunft auf die Nasdaq setzen."
(Bericht von Paul Arnold und Oliver Hirt; Mitarbeit Patricia Weiss, redigiert von Ralf Banser. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)