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07.11.2024 /15:34:27
TOP-THEMA-Scholz sucht Nähe zu Merz - Minderheitsregierung formiert sich

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Ex-Banker Kukies wird Lindner-Nachfolger im Finanzministerium



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Wissing weiter Verkehrsminister, tritt aus FDP aus



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Zusätzliche Aufgaben für Wissing und Özdemir in Regierung



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Merz: Kanzler muss sofort Vertrauensfrage stellen



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Habeck: Regierung ist handlungsfähig





(neu: Details zu weiteren Personalien, Habeck, Lindner, Steinmeier)

- von Christian Krämer, Andreas Rinke, Alexander Ratz, Holger Hansen und Markus Wacket -

Berlin, 07. Nov (Reuters) - Nach dem Bruch der Ampel formiert sich die rot-grüne Minderheitsregierung. Neuer Finanzminister ist der frühere Goldman-Sachs-Investmentbanker Jörg Kukies. Er legte am Donnerstag im Bundestag seinen Amtseid ab. Verkehrsminister Volker Wissing blieb trotz des Rückzugs anderer FDP-Minister auf seinem Posten und will stattdessen aus der FDP austreten. Wissing bekam wie Agrarminister Cem Özdemir (Grüne) zusätzliche Aufgaben. Eine besondere Rolle kommt nun Oppositionsführer Friedrich Merz zu. Der CDU-Chef traf sich am Mittag mit Kanzler Olaf Scholz (SPD), um eine Zusammenarbeit im Parlament auszuloten, allerdings ohne greifbares Ergebnis. Merz wie auch die FDP forderten schnellere Neuwahlen als von Scholz geplant.

Nach drei schwierigen Jahren mit dem Krieg in der Ukraine, Rekordinflation und Rezession war die erste Ampel-Regierung im Bund am Mittwochabend zerbrochen - knapp ein Jahr vor der regulären Wahl. Scholz und FDP-Chef Christian Lindner machten sich dafür auf offener Bühne gegenseitig schwere Vorwürfe. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier überreichte den FDP-Ministern im Schloss Bellevue ihre Entlassungsurkunden, Kukies seine Ernennungsurkunde. Kukies ist ein Vertrauter von Scholz und war zuletzt Staatssekretär im Kanzleramt.

Neben Lindner scheiden auch Marco Buschmann und Bettina Stark-Watzinger aus der Regierung aus, die bisher für Justiz beziehungsweise Forschung und Bildung zuständig waren. Grünen-Politiker Özdemir übernimmt geschäftsführend auch das Bildungs- und Forschungsministerium, Wissing Regierungskreisen zufolge das Justizressort.

NUR KURZES TREFFEN VON SCHOLZ UND MERZ

Das Gespräch zwischen Scholz und Merz im Kanzleramt dauerte Unionskreisen zufolge nur 25 Minuten. Der CDU-Chef habe angeboten, dass die Union jederzeit über anstehende Tagesordnungspunkte und Gesetze im Bundestag sprechen könne - aber erst, wenn die Vertrauensfrage vom Bundeskanzler in den kommenden Tagen gestellt werde. Scholz wolle aber an seinem Zeitplan Mitte Januar festhalten. Eine verlorene Vertrauensfrage würde den Weg zu Neuwahlen ebnen. Scholz plant diese bis Ende März, die Union pocht auf mehr Tempo. Es dürfe jetzt keine lange Hängepartie geben, hieß es in Kreisen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. "Die Lage in Deutschland, Europa und der Welt erfordern eine innen- wie außenpolitisch handlungsfähige Bundesregierung."

Vize-Kanzler Robert Habeck hält die Minderheitsregierung für genau dies. Die Aufgabe werde unter veränderten Bedingungen fortgeführt, "wie denn sonst", so der Grünen-Politiker. Forderungen nach schnelleren Neuwahlen schloss er sich nicht an. Die Regierung werde weiter im Kabinett Gesetzentwürfe auf den Weg bringen, für die dann im Parlament Mehrheiten gesucht werden müssten. Es werde jetzt keinen Stillstand oder sofortigen Wahlkampf geben. Die nächste Regierung werde es auch nicht leicht haben.

In der neuen Konstellation gibt es Habeck zufolge keine Haushaltssperre. Dies sei unter Kukies auch nicht zu erwarten. Gesetzliche Verpflichtungen im Rahmen bestehender Förderprogramme würden erfüllt. Neue Förderprogramme seien dagegen schwieriger. "Aber alles, was da ist, kann erst einmal weiter fortgeführt werden." Beim Nachtragshaushalt 2024, der noch im Bundestag verabschiedet werden muss, müsse mit der Opposition geschaut werden, ob zumindest Teile davon beschlossen werden könnten. Den fehlenden Haushalt für 2025 bezeichnete er als schwere Hypothek. Daran war die Ampel zerbrochen.

LETZTE WORTE VON SCHOLZ: "SO. DOOF."

Scholz hatte am Mittwochabend im Kanzleramt von fehlendem Vertrauen und zu vielen Querschüssen von Lindner gesprochen. Lindner wiederum warf dem Kanzler mangelnde Führungsstärke und eine falsche Wirtschaftspolitik vor. "Unser Land darf keine Zeit verlieren", sagte er am Donnerstag in der Parteizentrale in Berlin. Es brauche schnell Neuwahlen. Scholz habe ihn zwingen wollen, 15 Milliarden Euro zusätzliche Schulden zu machen. Die Regierung habe grundsätzlich zu wenig gegen die Wirtschaftsschwäche gemacht, zum Beispiel komme die Wachstumsinitiative nicht richtig voran. "Mich hat das menschlich aufgerieben."

Bei Spitzenpolitikern von SPD und Grünen hieß es, der Bruch habe sich abgezeichnet, weil es Lindner darauf angelegt habe. Er hatte in einem Grundsatzpapier eine radikale Wende in der Wirtschaftspolitik gefordert, verbunden mit der Abwicklung von Ampel-Gesetzen, die SPD und Grünen wichtig sind. Das Dokument wurde von Teilen der Ampel als Scheidungspapier aufgefasst.

In Koalitionskreisen hieß es, Lindner habe zuerst Neuwahlen vorgeschlagen, Scholz dies aber abgelehnt. Die FDP habe dann um eine Unterbrechung des Koalitionsausschusses gebeten, in der der Vorschlag von der "Bild" berichtet worden sei. Nach der Pause habe Lindner deutlich gemacht, dass er eine Abweichung von der Schuldenbremse - wie von SPD und Grünen gefordert - nicht mittragen werde. "Dann, lieber Christian, möchte ich nicht mehr, dass Du meinem Kabinett angehörst und werde morgen früh dem Bundespräsidenten mitteilen, dass Du entlassen wirst", habe Scholz erwidert. Lindner habe gesagt, dann gebe es immerhin Klarheit. Daraufhin habe etwa zehn Sekunden Schweigen geherrscht, bis Scholz gesagt habe: "So. Doof."

STEINMEIER OFFEN FÜR NEUWAHLEN ÜBER VERTRAUENSFRAGE

Bundespräsident Steinmeier zeigte sich offen für den Weg zu Neuwahlen über eine Vertrauensfrage. Das Land brauche eine stabile Regierung. Das werde sein Prüfungsmaßstab sein. CSU-Chef Markus Söder erklärte, Vorhaben der rot-grünen Minderheitsregierung sollten nur sehr begrenzt mitgetragen werden. "Aber es geht nicht, die kaputte Ampel zu verlängern." Die FDP will Gesetzesvorhaben ebenfalls punktuell unterstützen. Zu Details wollte sich Lindner nicht äußern. Der FDP-Chef will die Liberalen in die kommende Bundestagswahl führen, sofern die Partei dies wolle.

(Mitarbeit von Rene Wagner, redigiert von Hans Busemann. Bei Rückfragen wenden Sie sich an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)

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