Nachricht


15.10.2024 /15:48:25
FOKUS 2-Offener Streit zwischen FDP und Grünen wegen Steuern und Sozialabgaben

*

FDP-Chef Lindner empört Grüne



*

Widerstand gegen Anhebung von Rechengrößen in Sozialversicherung



*

Lindner will steuerliche Entlastungen durchsetzen



*

Mützenich: Für Steuerentlastung und höheres Kindergeld



*

Kabinett tagt am Mittwoch: Entscheidung zu Sozialabgaben offen





(neu: Mützenich, Merz)
Berlin, 15. Okt (Reuters) - In der Ampel-Koalition ist
neuer Streit über gemeinsam geplante Vorhaben entbrannt.
Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner warf den Grünen am
Dienstag vor, Pläne zur steuerlichen Entlastung zu blockieren.
Die Grünen forderten Lindner dagegen auf, seinen Widerstand
gegen eine von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) vorgelegte
Anhebung der Rechengrößen in der Sozialversicherung aufzugeben.
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich wiederum betonte, dass die SPD
bereit sei, beide Themen diese Woche auf die Tagesordnung zu
setzen. Die SPD wolle die Reform der Kalten Progression. "Meine
Bitte wäre aber letztlich auch, dass der Finanzminister nicht
solche Dinge einfach mal mir nichts, dir nichts auf die
Tagesordnung setzt", sagte Mützenich. Bisher sei man davon
ausgegangen, dass man noch zwei Wochen Zeit habe.

Der Streit hatte sich am Morgen zugespitzt, als das Finanzministerium gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters erklärte, beide Themen seien miteinander verbunden. Man werde deshalb der Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenzen nur zustimmen, wenn der Weg für die Abmilderung der Kalten Progression freigemacht werde. Zukünftig solle dies mit einem "Tarif auf Rädern" automatisch erfolgen. Die Kalte Progression entsteht, wenn das Steuersystem nicht an die Teuerung angepasst wird. Steuerzahler rutschen dann bei Lohnerhöhungen in einen höheren Steuertarif, obwohl das Lohnplus ihnen durch die Inflation keine höhere Kaufkraft beschert.

"Die Grünen sollten Respekt vor den Steuerzahlern zeigen", schrieb Lindner später im Kurznachrichtendienst X. Der Bundestag könne noch diese Woche Klarheit schaffen. FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai sagte Reuters, der automatische Ausgleich der Inflation in der Einkommensteuer sei eine Frage der Gerechtigkeit. "Das steht den Menschen in unserem Land zu. Der Staat darf sich nicht zulasten seiner Bürger bereichern." Das werde die FDP in der Ampel deutlich machen.

Die Grünen befürchten ihrerseits höhere Beitragssteigerungen in der Kranken- und Rentenversicherung für kleine und mittlere Einkommensbezieher, wenn Lindner die strittige Verordnung nicht freigeben sollte. "Das liegt seit Wochen im Kabinett und wird nicht beschlossen", klagte die Co-Chefin der Grünen-Bundestagsfraktion, Britta Haßelmann. Die Anpassung der Rechengrößen sei zentral für Arbeitnehmer. Es brauche jetzt schnell Klarheit. Am Mittwoch tagt das Kabinett turnusgemäß. Der Grünen-Politiker Andreas Audretsch warf Lindner eine Eskalation vor. Montagabend habe der FDP-Chef die Verordnung noch freigegeben, am Dienstag seine Zustimmung wieder zurückgezogen. "Das ist kein verlässliches Regieren."

UNION: LINDNER MITSCHULD AN HÖHEREN SOZIALBEITRÄGEN

Mit der Verordnung sollen die Beitragsbemessungsgrenzen in der Renten- und Krankenversicherung jährlich an die Lohnentwicklung angepasst werden. Für 2025 bedeutet dies aber eine ungewöhnlich starke Erhöhung, da das Arbeitsministerium eine Lohnzuwachsrate für 2023 von rund 6,4 Prozent zugrundelegt. Bis zur Höhe der Beitragsbemessungsgrenzen werden von den Löhnen Beiträge an die Sozialversicherungen abgezogen. Für den Anteil der Entgelte darüber werden keine Sozialabgaben fällig. Durch die Anhebung müssen Gutverdiener mehr zahlen, weil dann ein größerer Teil ihres Lohns unter die Sozialabgabenpflicht fällt.

Dem Sozialverband VdK zufolge riskiert Lindner in der Rentenversicherung eine Beitragssatzerhöhung für alle. Wenn die Beitragsbemessungsgrenze nicht wie geplant angehoben werde, "würden der Rentenkasse Mehreinnahmen von rund zwei Milliarden Euro entgehen", sagte VdK-Präsidentin Verena Bentele zu Reuters. "Die Deutsche Rentenversicherung müsste dem mit einem allgemeinen Beitragssatzanstieg von 0,1 Prozentpunkten entgegensteuern."

In der SPD-Fraktion wurde die Verantwortung für die Zuspitzung auch den Grünen gegeben. Mützenich gab aber auch Lindner eine Mitschuld. Zugleich forderte er den FDP-Chef auf, das Kindergeld stärker zu erhöhen, damit es wieder zu einer größeren Spreizung zwischen Kindergeld und Kinderfreibetrag komme. Dieser wird vor allem von Besserverdienenden genutzt.

Die Union bezeichnete den Streit als typisch für den Zustand der Ampel-Koalition. Mathias Middelberg, Haushaltsexperte der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, warf der FDP vor, sich an stetig steigenden Sozialbeiträgen zu beteiligen. "Der von Lindner im Steuerfortentwicklungsgesetz geforderte Ausgleich der Kalten Progression bedeutet lediglich die Verhinderung inflationsbedingter Mehrbelastungen durch Steuern. Eine echte Entlastung ist damit nicht verbunden, lediglich ein Kaufkrafterhalt." Im Gegenzug biete Lindner seine Zustimmung an für höhere Sozialabgaben durch Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze.

(Bericht von Andreas Rinke, Holger Hansen, Alexander Ratz und Christian Krämer Redigiert von Scot W. Stevenson Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)

Hinsichtlich weiterer Informationen und einer gegebenenfalls erforderlichen Offenlegung potenzieller Interessenkonflikte nach § 85 WpHG der für die Erstellung der zugrunde liegenden Finanzinformationen oder Analysen verantwortlichen Unternehmen wird auf das Informationsangebot dieser Unternehmen (Internetseite und andere Informationskanäle) verwiesen.