Nachricht


11.07.2025 /16:00:27
ANALYSE- Kratzer am Führungspersonal - Richterwahl als nächste Panne von Schwarz-Rot

*

Verschiebung der Richterwahlen überschattet Koalitionserfolge



*

Scharfe Kritik vor allem an Unions-Fraktionschef Spahn

*

Aber auch Kritik an Miersch und Wiese

*

Vorwürfe an Kanzler und Vizekanzler bei Stromsteuer
 
- von Andreas Rinke
Berlin, 11. Jul (Reuters) - Die schwarz-rote Koalition
hatte sich den Start in die parlamentarische Sommerpause anders
vorgestellt: Erst Vorwürfe über gebrochene Versprechen bei der
Stromsteuer, nun eine gescheiterte Richterwahl für das
Verfassungsgericht. Eigentlich wollten Union und SPD mit einer
Fülle von Beschlüssen Politikveränderung demonstrieren und für
Positiv-Nachrichten sorgen: So hatte der Bundesrat am Freitag
etwa das sogenannte Investitionsbooster-Paket zur Ankurbelung
der Wirtschaft final beschlossen. Aber am Ende des ersten
Abschnitts der Regierungszeit von CDU/CSU und SPD entsteht der
Eindruck mangelnder Durchsetzungsfähigkeit der Hauptakteure.
Dies traf am Freitag vor allem die Union.

"Es ist eine unverantwortliche Situation, in die Sie, Jens Spahn, uns gebracht haben", warf Grünen-Co-Fraktionschefin Britta Haßelmann dem im Plenum vor ihr sitzenden CDU/CSU-Fraktionschef vor. Der ließ regungslos auch die wütenden Angriffe von AfD und Linke über sich ergehen. Aber die für Spahn gefährlichste Ansage kam vom Koalitionspartner SPD. "Wir als SPD haben in den vergangenen Wochen bei wirklich schwierigen Entscheidungen, die unsere ganze Fraktion sich verdammt schwergemacht hat, gestanden", sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Dirk Wiese, und spielte etwa auf die Zustimmung der Sozialdemokraten zum umstrittenen Aus für den Familiennachzug für eingeschränkt Schutzberechtigte an. Und Wiese fügte mit einem warnenden Unterton an die Union hinzu: "Ich erwarte zukünftig, dass bei solchen schwierigen Entscheidungen auch andere stehen."

KRATZER AN DEN AUTORITÄTEN

Tatsächlich hatten Spahn und auch CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann beim Thema Richterwahl nicht - wie zunächst angedeutet - liefern können. Erst hatten sie den Nominierungen der SPD zugestimmt und noch Anfang der Woche Mehrheiten signalisiert. Am Freitag mussten sie dann aber einräumen, dass ihre Fraktion in erheblichen Teilen nicht hinter ihnen steht. Schlimmer noch: Bei den Sozialdemokraten wächst angesichts der Unionsbehauptung, dass Plagiatsvorwürfe gegen die nominierte Juristin Frauke Brosius-Gersdorf laut geworden seien, wieder das Misstrauen, dass Spahn seine Fraktion in eine rechtspopulistische Ecke steuern will. Zumal der "Plagiatsjäger" Stefan Weber es wenig später falsch nannte, dass er solche Vorwürfe erhoben habe. So hatte es bereits Kritik an Spahns Äußerungen über den Umgang mit der AfD und die Maskenaffäre gegeben. Spahn hat auch mit Unmut in der Fraktion über die hohe Schuldenaufnahme zu kämpfen. Kein Wunder, dass die in Umfragen schlecht dastehende SPD die Chance nutzt und wie SPD-Co-Chef Lars Klingbeil "Führung und Verantwortung" anmahnt.

In der Union wiederum gibt man aber auch der SPD-Fraktionsführung eine Mitschuld. Denn man habe die Kritiker in den eigenen Reihen zunächst mit dem Hinweis besänftigen können, dass Frauke Brosius-Gersdorf keine Vizepräsidentin in Karlsruhe werde, sagte etwa der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, Steffen Bilger. Aber sowohl Wiese als auch SPD-Fraktionschef Matthias Miersch hätten diese Zusicherung in dieser Woche wieder relativiert, beklagte die Union. Dies habe den Nährboden für eine Ablehnung von Brosius-Gersdorf geschaffen. Auf jeden Fall gilt es als wenig glückliche Entscheidung beider Fraktionsführungen, die Abstimmung überhaupt zu einem Zeitpunkt anzusetzen, an dem über Erfolge der Regierung gesprochen werden sollte.

Nun gehört es zur Tradition selbstbewusster Fraktionen, dass es immer wieder Momente gibt, in denen die Abgeordneten der Fraktionsführung einmal nicht folgen. Aber die erst kurze Geschichte dieses schwarz-roten Bündnisses kennt bereits die im ersten Wahlgang gescheiterte Kanzlerwahl. Mutmaßliche SPD-Abweichler ließen dabei den damaligen Fraktionschef Klingbeil schlecht aussehen. Seit dem SPD-Parteitag muss der Vizekanzler und Co-Parteichef zudem gegen den Eindruck kämpfen, dass seine Partei nur begrenzt hinter ihm steht. Auch das ist kein Zeichen der Stärke.

Ohnehin sind die Autoritätsprobleme nicht auf die Regierungsfraktionen beschränkt. Mächtige Ministerpräsidenten machen Kanzler und Vizekanzler ganz offen dafür verantwortlich, bei den Beschlüssen über die Stromsteuer dafür gesorgt zu haben dass tagelang nicht über Entlastungen gesprochen wurde, sondern vor allem über das berichtet wurde, was nicht kam - die Senkung der Stromsteuer auch für die Verbraucher zum 1. Januar 2026.

Noch wird vieles in der schwarz-roten Koalition als zwar ärgerlich, aber nicht regierungsentscheidend angesehen. Man sei weit von einem Ende der Regierung entfernt, über das die AfD schon orakele, heißt es in beiden Koalitionslagern übereinstimmend. Aber erste Erinnerungen an die Ampel werden wach: Es ist der Eindruck entstanden, dass das Gespür für Stimmungslagen in den eigenen Reihen und die Wirkung politischer Beschlüsse in der Öffentlichkeit auch fehlt. Möglicherweise wird Kanzler Merz deshalb künftig weniger häufig betonen, dass sein Kabinett bis auf wenige Ausnahmen aus Newcomern bestehe. Die können zwar für frischen Wind sorgen - bringen aber eben auch eine Menge mangelnder Erfahrung mit den Tücken des alltäglichen Regierungsgeschäfts mit.

(Bericht von Andreas Rinke; redigiert von Christian Götz. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)

Hinsichtlich weiterer Informationen und einer gegebenenfalls erforderlichen Offenlegung potenzieller Interessenkonflikte nach § 85 WpHG der für die Erstellung der zugrunde liegenden Finanzinformationen oder Analysen verantwortlichen Unternehmen wird auf das Informationsangebot dieser Unternehmen (Internetseite und andere Informationskanäle) verwiesen.