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07.07.2024 /16:39:54
WDHLG-INTERVIEW-Hofreiter - Deutschland darf Frankreich nicht links liegen lassen

(Behebt Tippfehler im vierten Satz)

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Vorsitzender des Europaausschusses im Reuters-Interview



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Hofreiter fordert mehr Kontakte auf lokaler Ebene und mit Macron



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"Annäherung mit Polen und Großbritannien ist große Chance"

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Grünen-Politiker: SPD muss Ukraine-Politik verändern
 
- von Andreas Rinke
Berlin, 07. Jul (Reuters) -

Deutschland sollte nach Ansicht des grünen Europa-Experten Anton Hofreiter nach dem jüngsten Zusammenrücken mit Großbritannien und Polen in jedem Fall weiter eng mit Frankreich zusammenarbeiten. "Deutschland darf nicht den Fehler machen, Frankreich links liegen zu lassen", sagte der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag am Sonntag im Reuters-Interview. "Das wäre ein sehr, sehr schwerer Fehler." Das gelte auch bei einem starken Abschneiden des rechtspopulistischen Rassemblement National (RN) bei der Parlamentsstichwahl, sagte Hofreiter wenige Stunden vor dem Schließen der Wahllokale. Zwar solle man nicht mit Rechtsradikalen zusammenarbeiten. "Aber das heißt auf kommunaler Ebene und mit dem Präsidenten noch mehr zu machen sowie mit den demokratischen Kräften, die es weiter im französischen Parlament geben wird."

Hofreiter bezeichnete die verbesserten Beziehungen Deutschlands mit Großbritannien und Polen als "ganz, ganz große Chance für Deutschland und für Europa". Nach dem Sieg der Labour-Partei bei der britischen Parlamentswahl hatte der neue Außenminister David Lammy am Samstag als Ziel seiner ersten Auslandsreise Berlin besucht. Er hatte sich mit Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) ausgetauscht und im Reuters-TV-Interview von einem "Neustart" der Beziehungen zu Europa gesprochen. Bereits Anfang der Woche hatte Kanzler Olaf Scholz bei bilateralen Regierungskonsultationen in Warschau Deutschland und Polen als Stabilitätsanker in Europa bezeichnet. In beiden Ländern waren europakritische Regierungen abgewählt worden.

Allerdings habe die Bundesregierung gerade gegenüber Großbritannien und Polen eine besondere Verantwortung, mahnte der Vorsitzende des Europaausschusses. "Beide Regierungen sind in gewisser Hinsicht auf Bewährung." So gebe es in beiden Ländern Parteien, die wieder auf einen Kurswechsel drängten. Deshalb drohten die verbesserten Beziehungen nach in einigen Jahren wieder zu enden, wenn die Regierungen dort nicht wiedergewählt würden. Deswegen sei es "unsere demokratische Verpflichtung" gegenüber diesen Ländern, sich um eine enge Zusammenarbeit zu bemühen.

"Mit Großbritannien sollten wir jetzt ernsthaft versuchen, über eine deutliche Annäherung an die EU zu verhandeln", sagte Hofreiter. Das Land habe "gigantische ökonomische Schwierigkeiten", unter anderem wegen des Brexits. "Es gibt ja auch ein Schweiz-Modell, es gibt ein Norwegen-Modell, was ökonomisch sehr helfen würde", sagte er mit Blick auf diese beiden Länder, die keine EU-Mitglieder sind, aber sehr eng mit dem EU-Binnenmarkt verflochten sind. "Das Norwegen-Modell mit der EU würde Labour und die Demokratie im Königreich stabilisieren."

Allerdings müsse die Bundesregierung für verbesserte Beziehungen auch ihre Ukraine-Politik verändern. Sowohl Polen als auch Großbritannien pochten auf eine entschiedenere Haltung gegenüber Russland. Er sehe mit einer "gewissen Sorge" den Kurs des Kanzleramtes und der SPD in der Ukraine-Politik, der nicht entschlossen genug sei. Hofreiter gilt als vehementer Verfechter sehr viel umfangreicherer Waffenlieferungen an die Ukraine. "Polen und Großbritannien haben in meinen Augen zu Recht ein paar Fragezeichen an die Politik, insbesondere der SPD und des Kanzlers." Deutschland müsse deshalb in Europa stärker Führungsverantwortung wahrnehmen.

Der Grünen-Politiker forderte wie der polnische Ministerpräsident Donald Tusk gemeinsame europäische Verteidigungsbonds, um Waffenlieferungen an die Ukraine zu finanzieren. Die Bundesregierung lehnt diese Form der gemeinsamen Verschuldung in der EU aber ab. Hofreiter regte zudem eine engere Zusammenarbeit etwa der Geheimdienste an, um russische Bedrohungen zu unterbinden. "Wir haben es ja nicht nur mit einer direkten militärischen Bedrohung von außen zu tun." Es gebe Spannungen mit China in der Taiwan-Straße sowie die große Abhängigkeit bei Halbleitern oder Solaranlagen. "Das alles gehört zum erweiterten Sicherheitsbegriff in diesen Zeiten."

(Bericht von Andreas Rinke; redigiert von Jörn Poltz. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)

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