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04.10.2024 /11:00:00
HINTERGRUND-Eskalierender Libanon-Konflikt lenkt von Gaza-Krieg ab

- von Nidal al-Mughrabi
Kairo, 04. Okt (Reuters) - Mit dem sich immer weiter
verschärfenden Konflikt im Libanon verliert der seit einem Jahr
dauernde Krieg zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen an
internationaler Aufmerksamkeit. Doch dort geht der Beschuss
unvermindert weiter. Allein in dieser Woche wurden bei
israelischen Angriffen Dutzende Menschen getötet. Der schmale
Küstenstreifen, in dem vor Kriegsbeginn rund 2,3 Millionen
Menschen lebten, ist weitgehend zerstört. Im Gazastreifen wurden
nach Angaben der dortigen Gesundheitsbehörde rund 41.800
Menschen durch israelische Angriffe getötet und fast 97.000
verletzt. Die Lage für die palästinensische Zivilbevölkerung ist
katastrophal. Viele Menschen befürchten, dass sich mit der
Eskalation zwischen Israel und der Hisbollah im Libanon sowie
ihrem Verbündeten Iran die ohnehin geringen Aussichten auf eine
Waffenruhe im Gazastreifen weiter schwinden.

Manch einer in Israel und in der Hamas ist der Auffassung, der Libanon-Konflikt könnte dazu beitragen, den Krieg im Gazastreifen zu beenden. Allerdings sind Experten, Vertreter der als Vermittler auftretenden Länder und viele in der Bevölkerung im Gazastreifen skeptisch. "Der Fokus liegt auf dem Libanon, was bedeutet, dass der Krieg im Gazastreifen nicht so bald enden wird", sagte Hussam Ali, ein 45-jähriger Bewohner von Gaza-Stadt. Seine Familie sei seit Beginn des Krieges zwischen Israel und der Hamas am 7. Oktober 2023 sieben Mal vertrieben worden.

Als der Iran am späten Dienstagabend ballistische Raketen auf Israel abfeuerte und Israel daraufhin eine "schmerzhafte" Reaktion ankündigte, begrüßten einige Bewohner des Gazastreifens die am Himmel sichtbare Salve als Zeichen dafür, dass die Führung in Teheran für ihre Sache kämpft. Sami Abu Suhri, ein ranghoher Hamas-Funktionär, sagte, die Aussichten auf eine Waffenruhe im Gazastreifen und damit die Freilassung der dort festgehaltenen Geiseln sowie im Gegenzug in Israel inhaftierter Palästinenser seien vor der Eskalation im Libanon gering gewesen. Ein regionaler Konflikt könne Druck auf Israel machen, ein Abkommen im Gazastreifen zu schließen, sagte er.

Dem widerspricht Aschraf Abduelhul, Chefredakteur der staatlichen Zeitung "Al-Ahram" in Ägypten, das neben den USA und Katar in den monatelangen und nun in der Sackgasse steckenden Verhandlungen über eine Waffenruhe vermittelt. Angesichts der zunehmenden Aufmerksamkeit auf den Libanon bestehe die Gefahr, dass sich der Krieg im Gazastreifen sogar verlängere, befürchtet Abduelhul. "Das Gefährlichste ist nicht, dass sich die Aufmerksamkeit der Medien auf andere Dinge verlagert, sondern die Tatsache, dass derzeit niemand auf der Welt von einem Abkommen oder einer Waffenruhe spricht. Das gibt Israel freie Hand, seine militärische Offensive und seine Pläne im Gazastreifen fortzusetzen."

FESTGEFAHRENE VERHANDLUNGEN

Dort gibt es keinerlei Anzeichen für ein Ende der israelischen Offensive gegen die Hamas. Ägypten, das an den Gazastreifen grenzt, ist in hohem Maße alarmiert. Durch den Krieg gehen Ägypten Milliarden an Einnahmen aus dem Suezkanal verloren. Die Regierung in Kairo ist frustriert, dass ihre Vermittlungsbemühungen noch immer nicht zu einer dauerhaften Waffenruhe geführt haben.

Die USA - engster Verbündeter Israels und ebenfalls Vermittler - sind weiterhin darauf erpicht, eine Waffenruhe zu erzielen. Auch wenn sich die Hamas wochenlang geweigert habe, sich zu beteiligen, sagte ein Sprecher des Außenministeriums.

Die Hamas wiederum und westliche Diplomaten erklärten im August, die Verhandlungen seien aufgrund neuer israelischer Forderungen, Truppen im Gazastreifen zu belassen, ins Stocken geraten. "Während Israel seit dem 7. Oktober 2023 behauptet, dass militärische Gewalt und Druck auf Hamas und Hisbollah dabei helfen würden, die Geiseln nach Hause zu bringen, haben wir gesehen, dass das genaue Gegenteil der Fall ist", sagte Nomi Bar-Yaacov, Expertin für Nahostdiplomatie bei der Londoner Denkfabrik Chatham House. Israels verstärkter Feldzug gegen die Hisbollah "drängt die Waffenruhe im Gazastreifen in den Hintergrund, da der Schwerpunkt nun darauf liegt, das militärische Arsenal der Hisbollah so weit wie möglich zu zerschlagen".

Vor der Präsidentschaftswahl in den USA am 5. November dürfte hinsichtlich der Gespräche ohnehin nicht viel geschehen. Niemand könne wirksam Druck auf den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu ausüben, sagte ein Insider. Das sei das größte Hindernis für ein Abkommen im Gazastreifen. Die Hisbollah habe sich während der UN-Generalversammlung vergangene Woche dafür ausgesprochen, einen Vorschlag für eine 21-tägige Waffenruhe mit Israel mit einem Abkommen über eine Waffenruhe im Gazastreifen zu verknüpfen. Aber Israel habe dies abgelehnt, und der Plan sei fallengelassen worden. Tatsächlich hat Israel öffentlich die Idee einer raschen Waffenruhe mit der Hisbollah abgelehnt und stattdessen in der Nacht zum 1. Oktober mit einer Bodenoffensive im Südlibanon begonnen - zusätzlich zu den anhaltenden Luftangriffen auch auf Ziele in der Hauptstadt Beirut.

In ägyptischen Sicherheitskreisen heißt es zudem, die gezielte Tötung des Hisbollah-Anführers Hassan Nasrallah durch das israelische Militär Ende September habe die Chancen auf eine Vermittlung erschwert. Ägyptens Bemühungen beschränkten sich nun darauf, eine weitere Eskalation einzudämmen.

(geschrieben von Sabine Ehrhardt, redigiert von Kerstin Dörr. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte)

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