Washington, 05. Nov (Reuters) - Wer sich in Deutschland die Nacht um die Ohren schlägt, um die Ergebnisse der US-Wahl live zu verfolgen, tut sich möglicherweise keinen Gefallen: Experten warnen wie alle vier Jahre davor, dass die frühen Ergebnisse ein falsches Bild abgeben können. Auf Englisch wird von Fata Morganas in der jeweiligen Parteifarbe gesprochen: Eine "red mirage" bei einer trügerischen frühen Führung der Republikaner und entsprechend einer "blue mirage" bei den Demokraten. Die zugehörige "Verschiebung" in die Gegenrichtung gegen Ende der Auszählung wird dann "red shift" oder "blue shift" genannt.
Drei Faktoren kommen hierbei zusammen: Erstens, in vielen Bundesstaaten werden die Briefwahlstimmen zu einem anderen Zeitpunkt ausgezählt als die aus den Urnen. Zweitens, Briefwahlstimmen mit einem Poststempel vom Dienstag werden teilweise noch Tage später angenommen. Drittens und am wichtigsten: Demokraten stimmen eher per Brief ab als Republikaner.
So kam es bei der Wahl 2020 in mehreren Bundesstaaten zu "red mirages", weil die Republikaner des damaligen - und diesjährigen - Kandidaten Donald Trump in die Wahllokale gingen und diese Stimmen früher gezählt wurden. Im Laufe der Wahlnacht kam es dann zu einer "blue shift" für den späteren Wahlsieger Joe Biden, als die Demokraten-lastigen Ergebnisse der Briefwahlen hinzukamen. Zwar sagten Experten diesen Effekt korrekt voraus. Trump nutzte ihn jedoch für seine bis heute juristisch nicht belegte Behauptung, er habe nur durch einen groß angelegten Wahlbetrug verloren.
In diesem Jahr stehen sieben Bundesstaaten im Fokus, deren Ergebnisse entscheidend sein dürften. Diese "swing states" weisen folgende Besonderheiten bei der Auszählung auf:
PENNSYLVANIA: Erwartet wird eine "red mirage / blue shift", denn Wahlhelfern ist es bis zum Morgen des Wahltags untersagt, Briefwahlstimmen zu bearbeiten. Bis diese Ergebnisse vorliegen, können Tage vergehen. Entsprechend dürften erste Ergebnisse ein stärkeres Abschneiden von Trump suggerieren, bevor die Demokratin Kamala Harris später durch die Briefwahl aufholt.
WISCONSIN: Eine ähnliche Situation wie in Pennsylvania, mit einer weiteren Besonderheit: In vielen größeren Städten werden die Briefwahlzettel in Schüben zentral angeliefert und bearbeitet. Damit könnte es nach einer "red mirage" im Laufe des Mittwochs zu sprunghaften "blue shifts" bei den Demokraten kommen. Trump sprach 2020 auch hier fälschlicherweise von Betrug.
GEORGIA: Bis zu 70 Prozent der Bevölkerung gibt die Stimme vor dem eigentlichen Wahltermin ab, entweder per Briefwahl oder an Urnen beim "early voting". Briefwahlstimmen dürften jedoch erst am Wahltag gezählt werden. Andererseits wollen die Behörden alle Stimmen bis Mitternacht (US-Ortszeit; 06.00 Uhr Mittwoch MEZ) gezählt haben.
ARIZONA: Hier werden sogar fast 90 Prozent Brief- und Frühwähler erwartet. Deren Stimmen durften allerdings sofort nach dem Erhalt bearbeitet werden. Erwartet wird deswegen eine "blue mirage / red shift" Kombination, die zuerst Harris und dann Trump scheinbar bevorzugen sollte.
NORTH CAROLINA: Wie in Arizona wird hier wegen einer frühen Bearbeitung der Briefwahlstimmen eine "blue mirage / red shift" durch die Kombination aus frühen Briefwahlstimmen und späten Präsenzstimmen erwartet.
MICHIGAN hatte 2020 einen der schwersten Fälle von "red mirage / blue shift", die zu massiver Kritik führte. In der Folge wurde unter anderem die Vorabbearbeitung von Briefwahlstimmen erlaubt. Wie sich das in der Praxis auswirken wird, ist unklar.
NEVADA: Auch hier wurden die Verordnungen geändert, nachdem das späte Ergebnis 2020 - fünf Tage nach dem Wahltag - den Staat zum Gespött des Landes machte. Allerdings werden Briefwahlstimmen mit einem Poststempel vom Dienstag noch vier Tage später angenommen. Dies könnte Harris zugutekommen.
(Reuters Büro Washington geschrieben von Scot W. Stevenson Redigiert von Ralf Bode Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)