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09.10.2024 /07:30:01
WSHLG-ANALYSE-Kühnert, Nouripour, Lang - "Beinfreiheit" oder "Kette" für Kanzlerkandidaten

(Wiederholung vom Vorabend)

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Ampel-Parteien vor Wahlkampf mit Personalwechseln

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Parteilinker Miersch bekennt sich zu Scholz

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Aber Kanzler wird von SPD eingehegt

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Habeck will Kluft zwischen Partei und Kandidat vermeiden
 
- von Andreas Rinke
Berlin (Reuters) - In kurzer Folge scheinen derzeit die
Ampel-Parteien personelle Konsequenzen aus den schlechten
Ergebnissen der Landtagswahlen im Osten zu ziehen. Erst werfen
die beiden Grünen-Vorsitzenden hin, nun muss die SPD ihren
Generalsekretär auswechseln. Das hat zwar bei Kevin Kühnert
gesundheitliche Gründe. Aber auch er wies in seiner Erklärung
darauf hin, dass der Rückzug mit der nötigen Bewältigung des
enormen Stresses des beginnenden Bundestags-Wahlkampfes
zusammenhängt. In beiden Regierungsparteien stellt sich nun die
Frage, ob die Personalwechsel dazu führen, dass die erwarteten
Kanzlerkandidaten Olaf Scholz und Robert Habeck mehr oder
weniger Bewegungsspielraum im Wahlkampf haben werden - oder ob
die Parteien nun nach drei Jahren Ampel-Regierung die Zügel
stärker in die Hand nehmen. Die entscheidenden Schlüsselworte
heißen "Beinfreiheit" und "Einhegung".
MIERSCH STÄRKT LINKEN SPD-FLÜGEL

Diese Frage stellt sich vor allem bei der Ernennung von Matthias Miersch zum neuen SPD-Generalsekretär. Denn Miersch stärkt als bisheriger Sprecher der parlamentarischen Linken diesen Flügel im Willy-Brandt-Haus - und der selbstbewusste Jurist hatte in den vergangenen Jahren diverse Kontroversen auch mit Scholz.

In der SPD wird betont, dass Miersch ja nur Kühnert ersetze, der auch dem linken Flügel der Partei angehöre. Deshalb bleibe die bisherige Balance erhalten. Diese sorgte dafür, dass sich die Partei seit 2019 erstaunlich geschlossen zeigte - was allgemein als ein Grund für den Wahlerfolg 2021 angesehen wird. Bis heute sorgt ein Personalkorsett mit den beiden Parteichefs Lars Klingbeil und Saskia Esken, Kühnert sowie SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich dafür, dass Scholz weitgehend störungsfrei regieren konnte - trotz des lauter werdenden Murrens in der Partei, der Kanzler möge endlich mehr Identität als sozialdemokratischer Regierungschef zeigen - nötige Harmonie in der Ampel-Koalition mit Grünen und FDP hin oder her. "Es ist eine gute Personalentscheidung, weil die Parteilinke eingebunden wird", sagt der Politologe Gero Neugebauer deshalb zu Reuters zur Ernennung von Miersch.

Und dieser betonte umgehend, dass der Kanzler natürlich auch wieder Kanzlerkandidat werde und Scholz sich "100-prozentig" auf ihn verlassen könne. "Ein Generalsekretär hat loyal zu sein", sagt auch Neugebauer. Die Frage ist nur, gegenüber wem. SPD-Chef Klingbeil hat mehrfach angemahnt, dass in der Zeit bis zur Bundestagswahl die Partei wieder stärker die Zügel in die Hand nehmen müsse.

Tatsächlich scheint Scholz diese wiederholte Ansage begriffen zu haben. In der SPD-Fraktion hatte er angekündigt, dass er nun anders, kämpferischer auftreten wolle. Damit ist er zwar weit davon entfernt, persönliche Verantwortung für die schlechten Umfragewerte zu übernehmen. Aber auch Miersch betont, dass sich der Kanzler auf die Partei zubewege - und nicht umgekehrt. So kündigte Scholz an, den Mindestlohn notfalls per politischer Entscheidung deutlich erhöhen zu wollen. Der neue Generalsekretär lobt, dass der Kanzler in der Ukraine-Politik die Suche auch von diplomatischen Verhandlungen stärker nach vorne schiebe. Und vergangene Woche hatte Scholz der Industrie in Aussicht gestellt, für Entlastung etwa bei den Netzentgelten zu sorgen. Das sei so "eine Art Industriestrompreis", konzediert Miersch. "Die Beinfreiheit für Scholz wird mit Miersch auf jeden Fall nicht größer", heißt es in der SPD.

GRÜNE - AUFSTELLUNG NACH HABECK-ART

Das erinnert an die Debatte bei den Grünen - nur mit anderen Vorzeichen. Denn dort war eher der Eindruck entstanden, dass Vizekanzler Habeck durch den Personalwechsel auch die personellen Weichen für seine Kanzlerkandidatur gestellt hat - oder stellen will. Sollte tatsächlich die bisherige parlamentarische Wirtschafts-Staatssekretärin und Habeck-Vertraute Franziska Brantner neue Parteichefin werden, hätte er mehr Einfluss auf die Partei als in den vergangenen Jahren - auch wenn es bei den Grünen wieder eine Doppelspitze mit einem linken Politiker geben wird. Der Parteikurs soll zum Kandidaten passen - nicht unbedingt umgekehrt.

Einfach wird dies aber nicht. Denn als Wirtschaftsminister Habeck vergangene Woche beim Thema Bürokratieabbau plötzlich die Abschaffung aller Berichtpflichten für Unternehmen forderte - also auch der zu Umweltthemen -, wurde er nach kurzer Zeit wieder eingefangen.

UND WAS MACHT DIE FDP?

Viele Beobachter sind erstaunt, dass die FDP als dritter Ampel-Partner zwar die heftigsten Verluste bei den Landtagswahlen zu erleiden hatte, dafür aber bisher keine personellen Konsequenzen auf Bundesebene gezogen hat. Möglicherweise liege dies daran, dass man bei den Liberalen längst radikalere Schritte diskutiert, wird in der Ampel gemutmaßt. "Die FDP debattiert doch andauernd, ob sie die Ampel nun verlassen soll oder nicht", meint ein Koalitionsvertreter, der nicht genannt werden will. "Beinfreiheit" bei der FDP bedeutet deshalb eher, dass Parteichef Christian Lindner frei ist, die Reißleine zu ziehen, wenn er dies für nötig hält.

(Redigiert von Ralf Bode. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)

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