(Aktualisierung vom 10. November, mit Scholz) |
*
Stimmung in Union nach Ampel-Bruch überbordend |
*
Aber Kanzler kontrolliert Zeitplan für Neuwahlen |
*
Union will mit kurzem Wahlkampf Fehler vermeiden |
*
Regierung wird Union und FDP mit Gesetzesvorhaben "testen" |
- von Andreas Rinke |
Berlin, 11. Nov (Reuters) - In den beiden |
Sondersitzungen der Unions-Bundestagsfraktion seit dem |
Rausschmiss von Finanzminister Christian Lindner (FDP) war die |
Stimmung nach Teilnehmerangaben ausgesprochen gelöst. Kein |
Wunder: Wegen des Zerfalls der Ampel sehen sich CDU und CSU ein |
Stück näher an der erhofften Rückkehr an die Macht. Immerhin |
sieht das ZDF-Politbarometer die Union bei mittlerweile 33 |
Prozent - während die SPD bei 16 Prozent und die Grünen bei |
zwölf Prozent liegen. Deshalb wächst die Ungeduld: Hatte die |
Union ursprünglich selbst Neuwahlen im März vorgeschlagen, so |
fordert sie diese nun schon für Januar. Am Mittwoch wollen |
CDU-Chef Friedrich Merz und der CSU-Vorsitzende Markus Söder auf |
eine sofortige Vertrauensfrage von Kanzler Olaf Scholz bestehen, |
um den Weg zu Neuwahlen freizumachen. Doch ganz so einfach ist |
die Lage auch für die Union nicht: Auf dem aus CDU-Sicht |
sicheren Weg zurück ins Kanzleramt gibt es einige Hürden. |
Das erste Problem ist, dass die Union keine Kontrolle über das Verfahren hat. Kanzler Scholz kann im deutschen politischen System selbst entscheiden, wann er die Vertrauensfrage stellt. Und Scholz hat zwar bei der Entlassung von Finanzminister Lindner sofort seine Bereitschaft zu schnellen Neuwahlen erklärt - aber zunächst den 15. Januar als anvisiertes Datum für die Bundestagsabstimmung über die Vertrauensfrage genannt. Ziel sei eine Neuwahl spätestens Ende März. Bisher hat Scholz nur angeboten, dass man über den Termin sprechen könne, wenn die Fraktionen zuvor klärten, welche Gesetzesvorhaben zuvor noch beschlossen werden können. Merz will aber die umgekehrte Reihenfolge - und Wahlen bereits am 19. Januar. Am Sonntagabend schloss der Kanzler dann auch eine Vertrauensabstimmung noch in diesem Jahr nicht mehr aus.
Die Union könnte zwar ein konstruktives Misstrauensvotum beantragen und damit die Initiative zum Sturz des Kanzlers ergreifen. Dafür müsste Merz sich im aktuellen Bundestag als Kanzlerkandidat zur Wahl stellen. Aber dies gilt als riskant. Denn dann könnte die Union in die Lage geraten, dass Merz auch mit Stimmen der AfD gewählt wird. Dies wird als gefährlich für den folgenden Bundestagswahlkampf angesehen, weil SPD und Grüne der CDU trotz aller Dementis ohnehin vorwerfen, sie wolle die sogenannte "Brandmauer" zur AfD aufweichen. In Sachsen traf sich Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) gerade erstmals mit AfD-Landeschef Jörg Urban. Nach Teilnehmerangaben kritisierte Oppositionsführer Merz dieses Treffen in der Fraktions-Sondersitzung am Freitag als schweren Fehler. Die Sorge von CDU/CSU vor einer ungewünschten Unterstützung durch die AfD ist so groß, dass die Bundestagsfraktion am Donnerstag kurzerhand alle von ihr eingebrachten Gesetzesinitiativen im Bundestag zurückzog.
"Meine Vermutung ... ist, dass er versuchen möchte, jetzt noch Abstimmungen im Deutschen Bundestag durchzuführen, bei denen er uns, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, in eine Lage bringen will, die er anschließend für den Wahlkampf der SPD ausnutzen kann", sagte Merz am Freitag zum Festhalten des Kanzlers an seinem Zeitplan. Das wird in der SPD nicht bestritten, im Gegenteil: Scholz selbst hatte angekündigt, dass er bis Weihnachten noch laufende Gesetzesvorhaben mit einer Minderheitsregierung durchsetzen will. Darunter sind einige Projekte, bei denen es FDP und Union schwer fallen dürfte, sie abzulehnen. Merz selbst verwies darauf, dass die Union bisher bei der Hälfte der Gesetzesvorhaben der Ampel mitgestimmt habe.
Die SPD spekuliert darauf, dass der CDU-Chef seine angedeutete rote Linie nicht halten kann. Erst sagte er, dass die CDU/CSU-Fraktion die Zustimmung für einzelne Projekte nur dann prüfen werde, wenn Scholz sehr schnell die Vertrauensfrage stellt. Am Freitag klang er wieder anders. Gleichzeitig betont Merz immer wieder eine staatstragende Haltung der CDU. Die Wirtschaft wiederum dringt darauf, dass die verabredeten Teile aus dem Wachstumspaket schnell kommen müssen.
Das setzt sowohl FDP als auch Union unter Druck, sich punktuell hinter Scholz einzureihen - was dieser als "Führung" verkaufen könnte.
Offiziell argumentiert die SPD für den März-Termin, weil viele Parteien noch nicht fertig mit der Aufstellung für Bundestagswahlen sind. Das stimmt zwar - vorgezogene Wahlen stellen Parteien vor große logistische Herausforderungen. Aber dies ist nur die halbe Wahrheit. Bei den Sozialdemokraten setzt man hinter den Kulissen darauf, dass man bei einem längeren Wahlkampf durchaus von Fehlern des Unions-Kanzlerkandidaten Merz profitieren könne. In der Union wiederum hängt die Eile genau mit derselben Überlegung zusammen. Denn je hitziger die Auseinandersetzung wird, desto mehr werden Worte abgewogen. Verbale Fettnäpfchen sind ebenso gefährlich wie das Lachen am falschen Ort des Unions-Kanzlerkandidaten Armin Laschet während der Hochwasserkatastrophe im Wahlkampf 2021.
Drei Jahre hat die Union die FDP als Ampel-Partei für Entscheidungen des Bundesregierung mitverantwortlich gemacht - und nach Einschätzung von Demoskopen in Meinungsumfragen davon profitiert, dass enttäuschte Liberale zu ihr überliefen. Aber nach dem Ausscheiden der FDP aus der Regierung buhlen nun CDU und FDP wieder um dieselben Wählergruppen - und geben sich als konkurrierende Gralshüter der Schuldenbremse. Das könnte der FDP wieder Stimmen bescheren - und der Union Wähler kosten.
Bei der Kandidatenaufstellung der Union zeigt sich, dass die Ankündigung von Parteichef Merz nicht unbedingt aufgegangen ist, Frauen stärker zu fördern. Zwar sorgen die meisten Landesverbände dafür, dass Frauen auf Landeslisten für die Bundestagswahl stark vertreten sind. Aber das eigentliche Problem liegt - gerade bei der Aussicht auf den Gewinn vieler Wahlkreise - bei den Direktkandidaten. Es zeichnet sich ab, dass dort der Frauenanteil erneut weit unterdurchschnittlich sein wird. Dies ist ein eingestandener Schwachpunkt, der erst sichtbar wird, wenn alle Aufstellungsverfahren abgeschlossen sind. Zudem ziehen sich prominente CDU-Frauen wie Annette Widmann-Mauz, Nadine Schön oder Yvonne Magwas aus dem Bundestag zurück.
Dazu kommt bei aller gelebter Vorfreude auf einen erwarteten Machtwechsel, bei der Merz am Freitag sogar schon wieder über eine mögliche Berufung von Christian Lindner als Finanzminister einer schwarz-gelben Regierung spricht, das Bewusstsein, dass selbst eine angeschlagene SPD traditionell als sehr "kampagnenfähig" gilt. "Zu sicher sollten wird uns nicht sein", warnt ein führender Christdemokrat. Warnend wird darauf verwiesen, dass etwa Gerhard Schröder 2005 einen Aufhol-Wahlkampf hinlegte - und die SPD mit dem Kandidaten Olaf Scholz 2021 in den letzten Wochen vor der Bundestagswahl an eine lange Zeit in Umfragen deutlich dominierenden Union vorbei zog.
(Redigiert von Jörn Poltz und Birgit Mittwollen. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)