Nachricht


08.07.2024 /03:50:31
TOP-THEMA-Linke siegt überraschend bei Frankreich-Wahl - Politisches Patt droht

(Neu: Jüngste Meinungsumfragen, Reaktionen Ausland)

*

Linkes Lager siegt überraschend



*

Im Parlament droht ein Patt



*

Melenchon: Volksfront mit Regierungsbildung beauftragen



*

Euro gibt nach





- von Gabriel Stargardter und Tassilo Hummel und Reinhard Becker

Paris/Berlin, 08. Jul (Reuters) - Frankreich droht nach
dem überraschenden Wahlsieg der Linken ein Patt im Parlament und
politische Instabilität. Die Neue Volksfront (Nouveau Front
Populaire, NFP) fuhr zwar laut Demoskopen bei der Stichwahl am
Sonntag den Sieg ein, verfehlte eine absolute Mehrheit aber
deutlich. Sie kann jüngsten Meinungsforschern zufolge mit 184
bis 198 Sitzen im 577 Mandate umfassenden Parlament rechnen. Das
Mitte-Lager von Präsident Emmanuel Macron, der nicht zur Wahl
stand, stellt 160 bis 169 Abgeordnete. Eine faustdicke
Überraschung war das schlechte Abschneiden des rechten und
europaskeptischen Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen,
die noch in der ersten Wahlrunde triumphiert hatte. Nun dürfte
RN laut den Projektionen mit 135 bis 143 Mandaten nur auf Platz
drei landen. Das amtliche Endergebnis wird für Montagmorgen
erwartet.

Die unklaren politischen Perspektiven im dem EU-Kernland lastete auf dem Euro: Sei Kurs sank am Wahlabend im asiatischen Handel um 0,2 Prozent auf 1,08 Dollar. Ministerpräsident Gabriel Attal von Macrons Partei "Renaissance" sagte, er werde dem Präsidenten am Montagmorgen seinen Rücktritt anbieten. Macron will laut Präsidialamt zunächst die Wahlergebnisse auswerten, bevor er Entscheidungen trifft. Der Chef der Linkspopulisten, Jean-Luc Melenchon, forderte Macron auf, die Niederlage seines Lagers einzugestehen. Er solle die neue Volksfront mit der Regierungsbildung beauftragen. Spitzenvertreter der neuen Volksfront, die aus Sozialisten, der linkspopulistischen Partei "Das unbeugsame Frankreich" und den Grünen besteht, erklärten, sie würden Macron keine politischen Zugeständnisse machen.

"VIVE LA REPUBLIQUE"
 
"Vive la Republique", erklärte EU-Wirtschafts- und
Währungskommissar Paolo Gentiloni in einer ersten Reaktion auf
den Wahlausgang. Die Linke und das Mitte-Lager hatten in der
Stichwahl in einer sogenannten republikanischen Front auf
Wahlkreisebene Absprachen getroffen, um nach dem Rechtsruck in
der ersten Runde einen Durchmarsch des RN zu verhindern. Dies
gelang ihnen offenbar. Ohne eine absolute Mehrheit eines Lagers,
die im Parlament bei 289 Sitzen liegt, gilt eine
Regierungsbildung jedoch als schwierig - dies auch wegen der
politischen Polarisierung im Parlament.
"Die massive Wahlbeteiligung hat die Linke überraschend
klar gestärkt, so dass ein Premierminister aus dem Lager des
Nouveau Front Populaire absehbar ist", meint Marc Ringel,
Direktor des Deutsch-Französischen Instituts (DFI). Insgesamt
habe die Vernunft gesiegt und eine Regierung, die sich an einem
vorgegebenen Programm beziehungsweise einer Art
Koalitionsvertrag orientiere, scheine wahrscheinlich: "Dennoch:
Auch wenn die Wahlen nun vorbei sind, haben sie tiefe Gräben
zwischen den politischen Lagern vertieft, die so schnell nicht
zu kitten sind. Dies zu versuchen, wird vordringlichste Aufgabe
in den nächsten Monaten sein."

Präsident Macron hatte die Neuwahl nach dem Triumph des RN bei der Europawahl ausgerufen. "Alles in allem hat Emmanuel Macrons riskante Wette keine klare Parlamentsmehrheit hervorgebracht. Er befindet sich nun in der gleichen Situation wie zuvor, in der seine Partei keinen Rückhalt hat, um ehrgeizige Gesetzesvorhaben durchsetzen zu können", so die Einschätzung von Cornelia Woll, der Präsidentin der Hertie School in Berlin. Es sei somit weiter nicht sicher, dass er im September seinen Haushalt durchbringen könne, ohne dies durch Sonderregelungen zu erzwingen und ein Misstrauensvotum zu riskieren.

"BRÜSSEL UND BERLIN KÖNNEN AUFATMEN"

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte sich nach der ersten Wahlrunde sehr besorgt über die Lage in Frankreich geäußert. Er drücke die Daumen, dass es keine Regierung gebe, die von einer rechtspopulistischen Partei geführt werde. "Das Schlimmste wurde vermieden", sagte nun Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Jetzt komme es in Frankreich auf Flexibilität und Kompromissfähigkeit der demokratischen Parteien an. Die Grünen-Europaabgeordnete Anna Cavazzini sagte, Brüssel und Berlin könnten aufatmen, da Le Pens RN keine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung erreichen konnte. "In Paris herrscht Begeisterung, in Moskau Enttäuschung, in Kiew Erleichterung. In Warschau ist man zufrieden", schrieb der polnische Ministerpräsident Donald Tusk auf dem Kurznachrichtendienst X. Nikos Androulakis, Vorsitzender der griechischen sozialistischen Partei PASOK, erklärte, das französische Volk habe "eine Mauer gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Intoleranz errichtet und die zeitlosen Prinzipien der Französischen Republik bewahrt: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit". Auch Kolumbiens linksgerichteter Präsident Gustavo Petro gratulierte den Franzosen: "Es gibt Schlachten, die nur wenige Tage dauern, die aber über das Schicksal der Menschheit entscheiden. Frankreich hat eine solche Schlacht geschlagen". Ein EU-Beamter, der anonym bleiben wollte, sprach von einer "großen Erleichterung", fügte aber hinzu: "Was das (Ergebnis) für Europa im Alltag bedeutet, wird sich erst noch zeigen.

RN-Parteichef Bardella hatte auf eine absolute Mehrheit gesetzt. Er sagte am Wahlabend, Frankreich gerate in die Fänge der radikalen Linken. Nach Ansicht Le Pens hat ihre Partei nur wegen taktischer Absprachen ihrer Gegner verloren. Macron befinde sich in einer unhaltbaren Lage.

Der Chef der Sozialisten, Olivier Faure, sagte vor Anhängern, man habe nur einen Kompass: "Das Programm der neuen Volksfront." Dies bedeute, dass die Politik Macrons nicht fortgesetzt werden dürfe. Dies gelte vor allem für die Rentenreform. Zu den Forderungen des NFP gehört auch eine zehn-prozentige Erhöhung der Beamtengehälter, die Bereitstellung kostenloser Schulessen sowie eine Erhöhung der Wohnbeihilfen um zehn Prozent.

(Mitarbeit: Dominique Vidalon, Matthias Williams, Kate Abnett und Andreas Rinke, geschrieben von Reinhard Becker, redigiert von Ralf Bode. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)

Hinsichtlich weiterer Informationen und einer gegebenenfalls erforderlichen Offenlegung potenzieller Interessenkonflikte nach § 85 WpHG der für die Erstellung der zugrunde liegenden Finanzinformationen oder Analysen verantwortlichen Unternehmen wird auf das Informationsangebot dieser Unternehmen (Internetseite und andere Informationskanäle) verwiesen.