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11.09.2024 /15:47:45
HINTERGRUND-Kanzler im Kampfmodus - Scholz muss SPD Führung vermitteln

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SPD will von Scholz anderen Auftritt



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Scholz greift Merz auch persönlich an



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Zerrissen zwischen Moderation in Ampel und SPD-Profil



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Meinungsforscher: Imagewechsel ist schwierig





- von Andreas Rinke -

Berlin, 11. Sep (Reuters) - Es ist noch gut ein Jahr bis zum regulären Termin der Bundestagswahl. Aber Kanzler Olaf Scholz klingt seit Anfang der Woche, als ob er bereits in den Wahlkampfmodus übergegangen ist. Ungewohnt kämpferisch attackierte er im Bundestag CDU-Chef Friedrich Merz, dem er mangelnde Führung und fehlenden Charakter vorwarf. Schon am Montag und Dienstag wirkte Scholz auf zwei Veranstaltungen wie ausgewechselt. Einmal wanderte der SPD-Politiker bei einer Rede wie ein Tiger die Bühne auf und ab, sprach von Standfestigkeit, Klarheit und Charakter. Beim konservativen Seeheimer Kreis der SPD-Fraktion teilte er dann gegen den Oppositionsführer aus wie selten, warf Merz in der Asyldebatte Taschenspielertricks und Provinzschauspielerei vor. Verwundert reiben sich Parteigenossen die Augen.

Um die kämpferischen Auftritte zu verstehen, muss man zum Abend der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen zurückgehen. Da bekam Scholz in der SPD-Zentrale zu hören, dass es so nicht weitergehe. Zwar stellte niemand seine Rolle als Kanzler oder auch als künftiger Kanzlerkandidat infrage. Aber etwa Generalsekretär Kevin Kühnert mahnte eine bessere Kommunikation an - die auch den Kanzler betreffe. Tatsächlich sind nicht nur die Wahlergebnisse der SPD in Sachsen und Thüringen schwach. Auch die Zustimmungswerte für Scholz selbst und die SPD insgesamt sind vergleichsweise sehr niedrig.

Im ZDF-Politbarometer sagten 74 Prozent der Befragten, dass sie keine zweite Amtszeit Scholz? wollen. Die Sozialdemokraten, die lange erstaunlich geschlossen hinter dem Hanseaten standen, werden bei Umfragewerten um die 15 Prozent langsam nervös. Derzeit ziehen die Hinweise von Scholz-Vertrauten wie Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt nicht, dass es diese Zweifel auch ein Jahr vor der vergangenen Bundestagswahl gab - und Scholz am Ende gewann.

KANZLER ERFINDET SICH NEU

Lange Zeit hatte es der Kanzler als seine vordringliche Aufgabe angesehen, die Koalition aus drei ungleichen Partnern zusammenzuhalten. Mit einer Ausnahme: Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine überrumpelte er seine Koalitionspartner mit einem 100-Milliarden-Sondertopf für die Bundeswehr - was ihm Anerkennung selbst der Opposition einbrachte. ?Aber danach wirkte er eher als Moderator?, klagte ein unzufriedener SPD-Politiker.

Nun wirkt Scholz in der Asylpolitik entschiedener, auch wenn Merz ihm vorwirft, er setze seine Richtlinienkompetenz für Grenzabweisungen eben nicht ein. Nach der tödlichen Messerattacke auf einen Polizisten in Mannheim hatte der Kanzler angekündigt, dass Straftäter auch nach Afghanistan und Syrien abgeschoben würden. Seither drückt er im Hintergrund mit Innenministerin Nancy Faeser eine härtere Gangart durch - auch gegen Skeptiker in der Ampel-Regierung etwa bei den Grünen. Am Mittwoch betonte Scholz, dass er schon vor einem Jahr ?wild entschlossen? gewesen sei, sich mit Ländern und Union über härtere Maßnahmen zu einigen. Seine Ampel-Partner seien wenig begeistert gewesen.

Sein Ziel: Scholz will Führungsstärke demonstrieren - also genau das, was ihm die Opposition abspricht. ?Wer Führung bestellt, bekommt nur Ausreden?, giftete CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt in Anspielung auf den Scholz-Slogan, dass wer Führung bestelle, auch Führung bekomme. Nun drehte der Kanzler den Spieß um und sagte nach der Absage der Asylgespräche in Richtung Merz: ?Führung bedeutet Führung bei den eigenen Leuten. Führung bedeutet, dass man nicht davonläuft. Und Führung bedeutet, dass man Kompromisse machen kann.?

?PUDEL AN DER LEINE?

Das bringt ihm starken Applaus der eigenen Reihen ein. Den braucht er auch. Denn Scholz weiß, dass in der SPD eine Debatte auch über seine Person stärker werden könnte, wenn die Landtagswahl in Brandenburg am 22. September verloren geht. Zwar hat Verteidigungsminister Boris Pistorius betont, dass er nicht als Ersatzkandidat zur Verfügung stehe. Zwar verteilten die Seeheimer an alle Gäste demonstrativ eine Tasche mit Scholz? Gesicht und dem Bekenntnis ?Der Bessere bleibt Kanzler?.

Aber der Kanzler kann nur auf Geschlossenheit in der SPD und eine Wiederwahl hoffen, wenn der Glaube an ihn wiederkommt. Dafür muss er kämpfen - und zwar so, dass die Koalition nicht auseinanderfliegt und trotzdem deutlich wird, dass er die Zügel im Bündnis mit Grünen und FDP in der Hand hat. ?Er darf nicht wie ein Pudel an der Leine des Finanzministers wirken?, meint Politologe Gero Neugebauer.

Meinungsforscher und andere Experten warnen vor vorschnellen Vergleichen zu 2021. ?Das Bild von Scholz ist heute gefestigt. Es ist schwer zu sagen, was passieren müsste, damit sich dies noch einmal ändert?, sagt der Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts Forsa, Peter Matuschek, mit Blick auf die negativen Werte. Das Problem sieht auch der SPD-Kenner Neugebauer. ?Er ist nicht in einer so günstigen Situation wie 2021.?

Ampel-Beschlüsse wie das Heizungsgesetz, das Bürgergeld oder die teilweise Cannabis-Legalisierung hängen den Sozialdemokraten zudem insgesamt laut Umfragen wie Klötze am Bein. Umso wichtiger sei für die SPD, dass sie das Rentenpaket II durchsetze, sagt ein führender Genosse. Das Versprechen, das Rentenniveau bei 48 Prozent zu halten, sei schließlich eines der zentralen Wahlkampfversprechen gewesen.

(Redigiert von Thomas Seythal. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)

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