*
18-Seiten-Papier als Antwort auf Habeck-Vorschläge
*
Finanzminister will Soli und Körperschaftsteuer schon 2025 senken
*
FDP-Chef gibt eigener Ampel-Politik Mitschuld am Problemen |
*
Lindner: Klimaneutralität auf EU-Ziel 2050 verschieben |
*
Ampel berät am Mittwoch im Koalitionsausschuss |
*
CDU: Papier liest sich wie Kündigungsschreiben |
(durchgehend neu) |
- von Holger Hansen und Andreas Rinke |
Berlin, 01. Nov (Reuters) - Der Richtungsstreit in der |
Ampel-Koalition geht in die nächste Runde: Nach |
Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat auch |
Finanzminister Christian Lindner (FDP) eine grundsätzliche Wende |
in der Wirtschafts- und Finanzpolitik gefordert - allerdings in |
eine völlig andere Richtung. In einem am Freitag bekannt |
gewordenen 18-seitigen Grundsatzpapier des Finanzministers, das |
der Nachrichtenagentur Reuters vorliegt, fordert dieser ein |
völliges Umsteuern in der Wirtschafts- und Finanzpolitik mit |
einem Regulierungsmoratorium und Steuersenkungen. Dazu gehören |
auch konkrete milliardenteure Forderungen, die bereits den |
Haushalt 2025 betreffen sollen. |
Lindner distanziert sich in dem Papier in Teilen von der gemeinsamen Politik der vergangenen drei Jahre mit SPD und Grünen. Probleme wie ein Investitionsstau, eine geringe Produktivität oder ein Sonderweg beim Klimaschutz seien in den vergangenen Jahren von der Politik nicht nur nicht adressiert, sondern zum Teil "vorsätzlich herbeigeführt" worden, schreibt Lindner. "Deshalb ist eine Wirtschaftswende mit einer teilweise grundlegenden Revision politischer Leitentscheidungen erforderlich, um Schaden vom Standort Deutschland abzuwenden."
Konkret schlägt der FDP-Chef etwa einen sofortigen Stopp aller neuen Regulierungen vor sowie einen Abbau von Nachweis- und Berichtspflichten auf ein notwendiges Minimum. "Als Sofortmaßnahme sollte der Solidaritätszuschlag, der überwiegend von Unternehmen, Selbständigen, Freiberuflern sowie Hochqualifizierten gezahlt wird, entfallen", fordert er in dem Papier weiter. In einem ersten Schritt sollte der Solidaritätszuschlag 2025 um 2,5 Prozentpunkte auf drei Prozent gesenkt werden und 2027 ganz entfallen. Parallel sollte die Körperschaftssteuer 2025 um zwei Prozentpunkte reduziert und in weiteren Schritte 2027 und 2029 zusätzlich gesenkt werden. SPD und Grüne haben die völlige Abschaffung des Soli bisher abgelehnt. Allerdings wird dazu in Kürze ein Urteil des Bundeverfassungsgerichts erwartet.
Die zusätzlichen Kosten seiner Forderungen für den Bundeshaushalt 2025 beziffert der Finanzminister auf 4,5 Milliarden Euro für den Soli und 3,5 Milliarden für die abgesenkte Körperschaftssteuer. Nach der Steuerschätzung gebe es zudem verringerte Einnahmen von insgesamt 13,5 Milliarden Euro. Lindner pocht deshalb auf weitere Ausgabenkürzungen, weil sich gleichzeitig die zu erwartenden Ausgaben etwa für das Bürgergeld und die Kosten der Unterkunft (3,6 Milliarden) sowie für die Förderung der Erneuerbaren Energie weiter erhöhen. Der "Zukunftshaushalt" 2025 müsse Bestandteil der Wirtschaftswende werde.
SPD und Grünen würden gerne einen anderen Weg gehen, um die Haushaltslöcher zu stopfen und mehr Investitionen zu ermöglichen, nämlich über Sondervermögen oder eine teilweise Aussetzung der Schuldenbremse - was der FDP-Chef aber strikt ablehnt. SPD-Co-Chefin Saskia Esken hatte Lindner deshalb eine Mitschuld an der lahmenden Konjunktur gegeben.
Derzeit gibt es Spannungen in der Ampel-Koalition, die auch zu Spekulationen über ein vorzeitiges Ende und Neuwahlen geführt haben. Denn alle drei Koalitionspartner überdenken derzeit ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Kurs und betonen - auch in Vorbereitung auf ihre Wahlprogramme - ihre Differenzen.
Turnusmäßiger Wahltermin ist der 28. September kommenden |
Jahres. Dabei soll es Regierungssprecher Steffen Hebestreit |
zufolge bleiben. "Ich habe nicht den Eindruck, dass irgendwer |
dabei ist, sich in die Büsche zu schlagen", sagte Hebestreit am |
Freitag auf die Frage nach einem möglichen Koalitionsbruch. Man |
werde "konstruktiv die nächsten knapp elf Monate bis zum |
regulären Wahltermin für die nächste Bundestagswahl miteinander |
zusammenarbeiten". Er teile den Eindruck, dass angesichts der |
Herausforderung durch den ungewissen Ausgang der |
US-Präsidentschaftswahl am Dienstag (05. November) Stabilität im |
größten EU-Staat nötig sei. Hebestreit zeigte sich ähnlich wie |
Lindner gegenüber dem "Spiegel" optimistisch, dass sich SPD, |
Grüne und FDP noch auf den Haushalt 2025 einigen werden. |
Das Papier wird in Regierungskreisen auch im Zusammenhang mit einem erneuten Treffen der FDP-Bundestagsfraktion mit Wirtschaftsverbänden am Montag gesehen. Am Mittwoch soll nach der US-Präsidentschaftswahl zudem ein Koalitionsausschuss tagen. Lindner hatte dem "Spiegel" gesagt, dass er "keinen Vorsatz" habe, die Ampel zu verlassen, er aber eine Richtungsentscheidung in diesem Herbst fordere.
Wegen der Wachstumsschwäche hatte Kanzler Olaf Scholz (SPD) nicht nur einen "Pakt für Industrie" angeregt, sondern einen Bundeszuschuss zur Deckelung der Netzentgelte vorgeschlagen, der möglichst schon im Haushalt 2025 verankert werden soll. Auch dies würde Milliarden Euro kosten. Wirtschaftsminister Habeck hatte in seinem Papier zudem wie auch die SPD Investitionsprämien vorgeschlagen, also steuerliche Erleichterungen, wenn Unternehmen in Deutschland neu investieren.
Lindner reicht dies aber nicht oder er kritisiert den Weg über staatliche Hilfe sogar als falsch. So schlägt er in seinem Papier auch vor, die Subventionen für das Halbleiterwerk von Intel <INTC.O> in Magdeburg nicht zu verschieben, sondern zu streichen. Lindner geht in der Klimapolitik auf Konfrontationskurs vor allem zu den Grünen: Der deutsche Sonderweg, der Klimaneutralität schon 2045 vorsieht, solle beendet und das EU-Ziel übernommen werden, das Klimaneutralität erst 2050 vorsieht. "Klimapolitisch motivierte Dauersubventionen" sollten ebenso wie der Klima- und Transformationsfonds(KTF) abgeschafft werden. Die Vergütung für Erneuerbare Energien sollte in den nächsten Jahren auf null gesenkt werden. Lindner wiederholt auch seine Forderung nach einer grundlegenden Reform des Bürgergelds und der Migrationspolitik.
"Das Papier liest sich wie ein Kündigungsschreiben Richtung Ampel-Partner. Es erinnert an das Lambsdorff-Papier von 1982, das zum Bruch der damaligen Regierungskoalition führte", sagte Unions-Vizefraktionschef Mathias Middelberg zu Reuters. Wenn es Lindner jetzt nicht gelinge, die wesentlichen Punkte seines Papiers durchzusetzen, müsse er zwingend die Ampel-Regierung verlassen. 1982 war die von Kanzler Helmut Schmidt (SPD) geführte sozialliberale Koalition zerbrochen. Als "Scheidungsbrief" galt ein wirtschaftspolitisches Konzept des damaligen FDP-Wirtschaftsministers Otto Graf Lambsdorff. Es kam zu einer Koalition von Union und FDP unter Kanzler Helmut Kohl (CDU).
(Bericht von Holger Hansen und Andreas Rinke; redigiert von Jörn Poltz. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)