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05.07.2024 /15:47:40
TOP-THEMA-Neuer britischer Premier Starmer kündigt Kurswechsel an

(Neu: Starmer, Scholz)

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Labour-Chef Starmer löst Sunak als Premierminister ab

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Sunak: "Sorry"

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Konservative mit schlechtestem Ergebnis der Geschichte

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Rechtspopulist Farage zieht ins Parlament ein
 
London, 05. Jul (Reuters) - Großbritannien steht nach
einem Erdrutschsieg der oppositionellen Labour-Partei bei der
Parlamentswahl vor einem Kurswechsel. "Es dürfte jedem klar
sein, dass unser Land einen größeren Neustart braucht", sagte
der neue Premierminister Keir Starmer am Freitag vor seinem
Amtssitz in der Downing Street 10 in London. "Sie haben uns ein
klares Mandat erteilt, und wir werden es nutzen, um
Veränderungen herbeizuführen." Sein Vorgänger Rishi Sunak,
dessen Konservative Partei die vergangenen 14 Jahre an der
Regierung war, kündigte auch seinen Rücktritt als Chef der
Tories in absehbarer Zeit an. Er habe sein Bestes gegeben, aber
die Wähler hätten ein klares Signal gesendet.

Labour gewann am Donnerstag 412 der 650 Sitze im Unterhaus und damit 210 mehr als bei der letzten Abstimmung. Die Konservativen kamen auf 121 Sitze, ein Verlust von 244 Mandaten. Damit ist Sunak verantwortlich für das schlechteste Ergebnis der Tories in ihrer Geschichte. Die Liberaldemokraten errangen 71 Sitze, ein Plus von 60. Die rechtspopulistische Partei Reform UK des Brexit-Hardliners Nigel Farage kann vier Abgeordnete stellen, er selbst wird auch ins Parlament einziehen.

STARMER WILL VERTRAUEN IN POLITIK WIEDER HERSTELLEN

Labour-Chef Starmer erklärte, er verstehe, dass viele Briten nach skandalgeprägten Jahren und Chaos unter den Konservativen enttäuscht von der Politik seien. "Dieses Misstrauen kann nur durch Taten, nicht Worte geheilt werden. Das weiß ich." Die Briten müssten wieder entdecken, was sie ausmache. "Unabhängig von den Stürmen der Geschichte war eine der größten Stärken dieser Nation immer unsere Fähigkeit, einen Weg zu ruhigeren Gewässern zu finden", sagte er vor dem Hintergrund einer wachsenden Unzufriedenheit in weiten Teilen der Bevölkerung mit der wirtschaftlichen Lage und dem teils desolaten Zustand des öffentlichen Dienstes.

Große Spielräume hat der britische Sozialdemokrat nicht. Die Steuerlast ist so hoch wie nie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, die Nettoverschuldung entspricht fast der jährlichen Wirtschaftsleistung, der allgemeine Lebensstandard ist gesunken. Im Wahlkampf hatte er die Ankurbelung der Wirtschaft zu seinem wichtigsten Ziel erklärt. Vorgesehen ist ein Nationaler Wohlstandsfonds, der mit 7,3 Milliarden Pfund (8,6 Mrd Euro) ausgestattet werden soll. Geplant ist auch ein Schub für umweltfreundliche Energieerzeugung. Bis 2030 soll die an Land gewonnene Windenergie verdoppelt, die Solarenergie verdreifacht und die Offshore-Windenergie vervierfacht werden. 8,3 Milliarden Pfund (9,8 Mrd Euro) sollen in das zu gründende staatliche Unternehmen Great British Energy fließen.

Auf Steuererhöhungen will Labour weitgehend verzichten. In der Haushaltspolitik wird einer von Sparzwängen bestimmten Austeritätspolitik eine Absage erteilt. Angestrebt werden aber ausgeglichene Haushalte, in denen sich Ausgaben und Einnahmen die Waage halten. Neue Finanzministerin könnte Rachel Reeves werden, die früher bei der Bank of England arbeitete. Konketer soll das Regierungsprogramm bei der Thronrede von König Charles vorgestellt werden, die für den 17. Juli geplant ist.

SCHOLZ: STARMER WIRD SEHR GUTER PREMIERMINISTER WERDEN

Viele internationale Staats- und Regierungschefs gratulierten Starmer zum Wahlsieg. "Das wird ein sehr guter, sehr erfolgreicher Premierminister sein", erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz. Die Zusammenarbeit mit der britischen Regierung sei gut. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schrieb auf X, die Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich werde fortgesetzt. Er freue sich auf eine konstruktive Zusammenarbeit, erklärte Indiens Ministerpräsident Narendra Modi.

Die große Mehrheit von Labour im Parlament spiegelt nicht die tatsächliche Stimmung im Land. Denn nach dem britischen Wahlrecht gewinnt derjenige Kandidat den Wahlkreis, der die meisten Stimmen bekommen hat. Alle anderen Stimmen bleiben wirkungslos. So hat die Labour-Partei zwar mehr als 60 Prozent der Sitze gewonnen, kommt aber nur auf 34 Prozent der abgegebenen Stimmen. Für die Liberaldemokraten, die Grünen, die rechtspopulistische Partei Reform UK und andere kleinere Parteien stimmten rund 40 Prozent der Wähler, sie bekamen aber nur 18 Prozent der Parlamentssitze. Für die Tories entschieden sich knapp 24 Prozent der Stimmberechtigten.

Der ehemalige Investmentbanker Sunak zeigte sich betroffen vom Wahlausgang. "Dem Land möchte ich zuallererst sagen, dass es mir leid tut", sagte er in seiner letzten Ansprache als Premierminister. "Ich habe Ihren Ärger und Ihre Enttäuschung vernommen und übernehme die Verantwortung." Die Tories bekamen die Quittung für hohe Lebenshaltungskosten, marode öffentliche Einrichtungen, wie den Gesundheitsdienst NHS, den ausbleibenden Aufschwung nach dem Brexit und eine Reihe von Skandalen. Auch das Thema Einwanderung beschäftigt die Briten, viele erwarten eine deutliche Begrenzung.

(Bericht von Andrew MacAskill, Elizabeth Piper, Reinhard Becker und Alistair Smout, geschrieben von Myria Mildenberger und Hans Busemann, redigiert von Jörn Poltz. Bei Rückfragen wenden Sie sich an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte)

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