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26.09.2024 /16:20:58
HINTERGRUND-Steiniger Weg der Grünen zum Neuanfang auf Parteitag

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Grüne stellen Rücktritt als Entscheidung des Führungs-Duos dar



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Habeck unterstreicht Machtanspruch



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Neue Parteivorsitzende könnten Signal für Schwarz-Grün senden





- von Holger Hansen
Berlin, 26. Sep (Reuters) - Mit ihrem Rücktritt haben
die Grünen-Vorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour ihre
eigenen Reihen überrascht. Gut sieben Wochen vor dem
Bundesparteitag muss die in Bund und Ländern in Wahlen und
Umfragen gebeutelte Partei eine neue Parteispitze finden. Das
Austarieren von innerparteilichen Machtverhältnissen in der
sechsköpfigen Führung ist schon unter geringerem Zeitdruck kein
leichtes Unterfangen. Hinzu kommt: Die Bundestagwahl 2025 wirft
ihre Schatten voraus. Und noch dazu stehen in der zerstrittenen
Ampel-Koalition bis zum Parteitag schwierige Entscheidungen an,
die für zusätzlichen Streit sorgen und Fragen nach der
Handlungsfähigkeit der Grünen aufwerfen.

Es folgt ein Überblick über die wichtigsten Fragen:

WARUM DER RÜCKTRITT?

Vordergründig gaben die schlechten Ergebnisse bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg sowie im Juni das Debakel bei der Europawahl den Ausschlag. Zuletzt brachen die Grünen auch in bundesweiten Umfragen auf zehn bis elf Prozent ein. Der Abwärtssog schien unaufhaltsam. Intern sahen sich allerdings weder Nouripour noch Lang mit Rücktrittsforderungen konfrontiert, wie an vielen Stellen der Grünen versichert wird. Es sei die alleinige Entscheidung der beiden Co-Vorsitzenden gewesen, dass ein Neustart nur mit neuem Personal gelingen könne. Frustration über die Zusammenarbeit vor allem mit der FDP in der Ampel dürfte eine Rolle gespielt haben. Nouripour hatte seiner Resignation darüber am Tag nach der Brandenburg-Wahl freien Lauf gelassen.

WELCHE ROLLE SPIELT VIZEKANZLER ROBERT HABECK?

Der Wirtschaftsminister ist der Wort- und Verhandlungsführer der Grünen in der Bundesregierung. Er will seine Partei als Spitzen- oder Kanzlerkandidat in die nächste Bundestagswahl führen. Nicht alle in der Partei sind glücklich mit dem Machtanspruch Habecks. Aber innerparteiliches Aufbegehren musste er nicht befürchten.

Damit das so bleibt, vermittelt Habeck den Eindruck, dass der Rücktritt des an der Basis beliebten Duos nicht auf seine Kappe gehe. Dieser Argwohn könnte naheliegen. Seit Wochen laufen hinter den Kulissen interne Absprachen für die Aufstellung zur Bundestagswahl. Habecks enge Vertraute Franziska Brantner kam als Wahlkampfchefin ins Gespräch, damit der Wahlkampf aus der Parteizentrale und Habecks Linie aus einem Guss sind.

Zudem geht es um die Inhalte, mit denen Habeck über die eigene Klientel hinaus punkten könnte. Diese müssen von der Partei mitgetragen werden. Habeck hatte bereits im August klargemacht, dass alle ihre Rolle kennen müssten, wenn er antrete: "Dann müssen alle ihre Laufwege kennen." Dazu gehöre auch die Bereitschaft, bisherige Positionen zu korrigieren.

SIND DIE GRÜNEN NOCH HANDLUNGSFÄHIG?

Verglichen mit der Bundesregierung und den Fraktionen im Bundestag haben die Parteivorsitzenden wohl den geringsten Einfluss darauf, wie Entscheidungen ausgehen. Im Koalitionsausschuss von SPD, Grünen und FDP verhandeln sie mit, etwa wenn es um größere Konflikte geht - bis zum Parteitag wären das noch Lang und Nouripour. Aber Weichenstellungen werden in der Bundesregierung getroffen, und die Fraktionen können geltend machen, dass ohne ihre Stimmen kein Gesetz durch den Bundestag geht. Das Machtzentrum der Ampel-Koalition ist das Dreigespann aus Kanzler Olaf Scholz (SPD), Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP).

Die wohl wichtigste bis zum Parteitag der Grünen anstehende Entscheidung ist der Bundeshaushalt 2025. In der Nacht vor dem Beginn des Parteitages soll der Haushaltsausschuss in der sogenannten Bereinigungssitzung letzte Hand an den Etat legen. Bis dahin muss noch eine Milliardenlücke geschlossen werden.

WER WERDEN DIE NEUEN?

Bei der Neuaufstellung des sechsköpfigen Bundesvorstandes spielen auch die beiden wichtigsten Strömungen eine Rolle - die Realpolitiker und die Linken. Sie wollen sich jeweils im Führungs-Duo vertreten. Die Trennlinien wurden in den letzten Jahren aber aufgeweicht. Im Gespräch für die Parteispitze sind bisher Brantner, Staatssekretärin bei Habeck, und die Bundestagsabgeordneten Felix Banaszak oder Andreas Audretsch. Allerdings hat sich keiner dazu bislang geäußert.

Brantner ist nicht nur enge Vertraute von Habeck, sondern auch Reala und kommt aus dem einflussreichen Grünen-Verband im grün-schwarz regierten Baden-Württemberg. Banaszak ist wichtiger Drahtzieher des linken Flügels und hat als einstiger Parteichef in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2022 die Koalitionsverhandlungen mit der CDU zur Bildung der schwarz-grünen Landesregierung in Düsseldorf mitgestaltet. Brantner und Banaszak könnten somit auch ein Signal für eine mögliche Machtoption der Grünen nach der Bundestagswahl 2025 senden - eine Koalition mit der Union.

Audretsch zählt auch zum linken Flügel und ist als Vizefraktionschef für Wirtschaft und Soziales zuständig. Banaszak steht eher für Klimaschutz, einem zentralen Thema der Grünen. Sie wollen aber auch bei sozialer Sicherheit punkten.

Die Kandidatenlage wird sich nach Einschätzung aus der Partei vor dem Parteitag klären. "Das braucht noch ein bisschen Zeit", hieß es aus dem engeren Führungszirkel der Grünen. An anderer Stelle hieß es, dass innerhalb der nächsten zwei Wochen wohl Klarheit herrschen werde. Eindeutige Fristen für die Bewerbung um den Parteivorsitz gibt es nicht - rein rechtlich ist eine Bewerbung noch auf dem Parteitag möglich.

(Redigiert von Ralf Bode. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)

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