*
Noch setzt Scholz auf Einigung mit Grünen und FDP
*
Scholz könnte mit Vertrauensfrage hoch pokern
*
Minderheitregierungen wären mit und ohne Grüne denkbar
*
Neuwahl über Vertrauensfrage möglich
- von Andreas Rinke -
Berlin, 05. Nov (Reuters) - Angesichts der Nervosität und Zerstrittenheit in der Ampel-Koalition wird dem Koalitionsausschuss am Mittwochabend große Bedeutung für den Fortbestand des Bündnisses zugemessen. Während alle offiziell den Wunsch beteuern, an einer Lösung für den Haushalt 2025 und zur Ankurbelung der Wirtschaft zu arbeiten, wird vor allem der FDP unterstellt, sie wolle die Koalition verlassen und suche nur nach einem Ausweg. SPD und Grüne haben beteuert, die Regierung fortsetzen zu wollen - auch SPD-Co-Chefin Saskia Esken betonte aber, dass man für alle Fälle vorbereitet sei. Ein Überblick über die Optionen von Kanzler Olaf Scholz.
Vor allem aus SPD und Grünen kommt immer noch Zuversicht, dass eine Einigung gelingen kann. Beide Parteien haben angesichts schlechter Umfragewerte kein Interesse an einer Neuwahl und einer Distanzierung vom Koalitionspartner. Die FDP überlegt jedoch, ob eine Distanzierung von der eigenen Regierung ihr vielleicht bei den nächsten Wahlen über die Fünf-Prozent-Hürde helfen würde - was allerdings als unsicher gilt. Schon angesichts der außenpolitischen Herausforderungen argumentieren Ampel-Vertreter von SPD-Generalsekretär Matthias Miersch bis zu Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) dafür, bis zum regulären Wahltermin am 28. September 2025 zusammenzubleiben.
Scholz hat am Fortbestand ein besonderes Interesse. Er hatte die Ampel als Fortschrittskoalition bezeichnet und will als Regierungschef beweisen, dass er auch so gegensätzliche Kräfte wie FDP und Grüne zusammenhalten kann. Allerdings steht er mittlerweile unter großem Druck der eigenen Partei, weil auch die SPD bereits Wahlkampfpositionen bezogen hat. Scholz hofft, dass eine Einigung gelingt.
Wenn bei den Gesprächen in der Ampel keine Einigung gelingt, könnte Scholz theoretisch auch selbst ein Reformpaket schnüren, dieses im Bundestag präsentieren und eine Abstimmung mit der Vertrauensfrage verbinden. Zur Erinnerung: 2001 sicherte sich Gerhard Schröder die Zustimmung für den umstrittenen Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr, indem er diese Abstimmung mit der Vertrauensfrage verband.
Der Vorteil: Der Kanzler könnte sich damit als ehrgeiziger Reformer profilieren und ähnlich wie bei der Zeitenwende-Rede im Februar 2022 Führungswillen signalisieren. Der Nachteil: Er könnte krachend scheitern, falls sich FDP-Chef Christian Lindner entschieden haben sollte, dass dessen Partei außerhalb der Ampel bessere Karten hat. Dann würde Scholz als geschwächt dastehen.
Sollte es zu keiner Einigung kommen, muss Scholz nicht den Weg der Neuwahl gehen, der ohnehin nur über eine Vertrauensfrage möglich wäre. Auch der CDU-Politiker Thorsten Frei betont, dass es letztlich in Scholz? Hand liegt, ob er lieber mit einer Minderheitsregierung weitermachen möchte. Möglich wäre es, eine Minderheitsregierung mit den Grünen bis zum Ende der Legislaturperiode zu führen.
Der Vorteil: Die Regierung braucht keinen verabschiedeten Haushalt, sondern kann mit der vorläufigen Haushaltsführung auch so regieren. 2018 war dies bis zum Sommer der Fall. Die neue Kontrolle über das Finanzministerium würde eine andere Ausgabenpolitik ermöglichen. Rot-grüne Projekte, die bisher an Lindner scheiterten, würden klarer sichtbar.
Der Nachteil: Für viele Gesetzesvorhaben hätten SPD und Grüne keine Mehrheit - ihnen stünde eine rechnerische Mehrheit aus Union, FDP, AfD, BSW und Linken gegenüber.
Der schleswig-holsteinische Wirtschaftsminister Claus Ruhe Madsen argumentiert, dass eine Minderheitsregierung letztlich eine modernere Politik macht, weil sie nicht einen jahrealten - und oft veralteten - Koalitionsvertrag abarbeitet, sondern jeweils auf akute Probleme reagieren und dann wechselnde Mehrheiten suchen muss. Dagegen spricht, dass Minderheitsregierungen in einem föderal organisierten Staat wie Deutschland sehr kompliziert sind. Von Deutschland wird zudem in der EU anders als von skandinavischen Staaten ein anderes Führungsverhalten erwartet.
Scholz könnte sich auch entscheiden, eine Minderheitsregierung nur mit der SPD zu führen und auch die Grünen-Minister entlassen. Der Vorteil: Die SPD könnte etwa in der Migrations- und Wirtschaftspolitik Projekte anschieben, die es der Union schwer machen würden, sie abzulehnen. Frei, der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, räumte bereits ein, dass die Union dann von Fall zu Fall entscheiden müsste.
Für Scholz klingt dies auf den ersten Blick attraktiv: Er könnte als Kanzler Reformen anschieben, denen eine oppositionelle Union zustimmt. Das könnte seine Ausgangslage bei der Wahl verbessern. Der Nachteil: SPD und Grüne zogen zuletzt bei vielen Projekten an einem Strang. Die Sozialdemokraten könnten es sich mit allen verderben - und auch innerhalb der SPD-Fraktion gibt es erhebliche Vorbehalte gegen einen Scholz-Kurs.
Sollte die FDP ausscheren, könnte Scholz wie einige Kanzler vor ihm auf die Vertrauensfrage setzen, mit deren bewusster Niederlage er den Weg zu einer Neuwahl freimachen würde. Alle Ampel-Parteien müssen überlegen, ob sie von diesem Schritt profitieren. Derzeit liegen sie so weit zurück, dass sie zusammengenommen nicht einmal auf den Wert der Union kommen. In der SPD argumentieren die Kritiker einer Minderheitsregierungsoption damit, dass der öffentliche Druck ohnehin sehr schnell eine Neuwahl erzwingen würde.
(Redigiert von Thomas Seythal. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)