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19.09.2024 /11:55:37
ANALYSE-Deutsche Nahost-Politik nach Hamas-Massaker - "Insgesamt gescheitert"

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Angriff auf Israel vom 07. Oktober jährt sich erstmals

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Experten: Bundesregierung steht zu sehr an Seite Israels

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Außenministerin Baerbock punktet bei humanitärer Hilfe

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Ernsthafte Sorge über Lage im Westjordanland
 
- von Alexander Ratz
Berlin, 19. Sep (Reuters) - Das Existenzrecht Israels
ist deutsche Staatsräson. Regierungsvertreter in Berlin
wiederholen diese Aussage mantraartig. Das Massaker der
radikal-islamischen Palästinenser-Organisation Hamas in Israel
am 07. Oktober 2023 hat diese Staatsräson noch einmal bestärkt.
Auch die Reaktion der rechts-religiösen israelischen Regierung
mit dem Einmarsch in den Gazastreifen wurde hingenommen.
Mittlerweile - da sich das Massaker mit rund 1200 Toten und etwa
250 verschleppten Geiseln zum ersten Mal jährt - ist der Unmut
in Berlin über den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin
Netanjahu zwar gewachsen. Experten halten den Kurs der
Bundesregierung aber nach wie vor für zu Israel freundlich -
angesichts des Leids im Gazastreifen und der laut Hamas mehr als
41.000 Toten dort.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock ist seit dem 07. Oktober nach Angaben des Auswärtigen Amts bereits elf Mal in die Region und neun Mal nach Israel gereist. Zuletzt war die Ministerin am 06. September in Jerusalem und traf dort ihren israelischen Amtskollegen Israel Katz. Im Anschluss an das Treffen trat Baerbock wie in Israel üblich alleine vor die Presse und fand für deutsche Verhältnisse deutliche Worte. Ein rein militärisches Vorgehen werde den Konflikt nicht lösen und die noch im Gazastreifen verbliebenen rund 100 Geiseln nicht retten, erklärte Baerbock die Strategie Israels faktisch für gescheitert.

Gleiches sagt indes der Nahost-Experte Daniel Gerlach über die deutsche Außenpolitik seit dem 07. Oktober: "Da es der Bundesregierung insgesamt nicht gelungen ist, mäßigenden Einfluss auf den Konflikt auszuüben oder ihn in irgendeiner Weise zu beeinflussen, halte ich ihre Nahost-Politik für gescheitert", sagt der Mitherausgeber des Fachmagazins "Zenith" der Nachrichtenagentur Reuters. "Man muss feststellen, dass eine angeblich progressive und wertegeleitete Bundesregierung ? was die Ampel-Koalition ja sein wollte ? für einen großen Vertrauensverlust Deutschlands in der Welt verantwortlich sein wird."

"VERSAGEN DER BUNDESREGIERUNG"

Der Politikwissenschaftler Hajo Funke von der Freien Universität Berlin sieht das ähnlich. Er hält der Bundesregierung zwar zugute, dass ihre Handlungsmöglichkeiten wegen des "Gebots unbedingter Solidarität für Israel" begrenzt seien. Aber: Die Bundesregierung habe den völkerrechtswidrigen Umgang Israels mit der palästinensischen Bevölkerung und begangene Verbrechen der israelischen Armee im Gazastreifen hingenommen. Geboten wäre es aber vielmehr, Israel keine Offensivwaffen mehr zu liefern. "Davon ist in Deutschland nicht die Rede", sagt Funke zu Reuters und betont: "Das ist ein Versagen der Bundesregierung."

Allerdings geht aus einer Anfrage der Bundestags-Gruppe des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) an die Bundesregierung hervor, dass der Export von Kriegswaffen aus Deutschland an Israel in den ersten acht Monaten 2024 drastisch zurückgegangen ist. Danach hatte die Bundesregierung 2023 noch Waffenexporte im Volumen von 326,5 Millionen Euro genehmigt. Bis zum 21. August 2024 sanken die Genehmigungen demnach auf 14,5 Millionen Euro, davon entfielen auf die Kategorie Kriegswaffen noch eine Summe von 32.449 Euro. Wirtschaftsminister Robert Habeck betont denn auch, es werde zwischen Abwehrwaffen und solchen für den Einsatz im Gazastreifen unterschieden. "Insofern differenziere ich da sehr, sehr genau", betonte der Grünen-Politiker kürzlich bei einem Bürgerdialog in Osnabrück.

Aber auch hier gibt es offenbar unterschiedliche Ansätze innerhalb der Bundesregierung. Während das SPD-geführte Kanzleramt eine Israel-freundlichere Position vertritt, sind das bei Waffenexporten federführende Wirtschaftsministerium und das Auswärtige Amt - beide Grünen geführt - wesentlich kritischer. Das sieht Nahost-Experte Gerlach ähnlich: "Der Bundeskanzler lässt nicht erkennen, dass ihn das Thema Gaza besonders interessiert", sagt Gerlach. "Er schweigt großenteils, was nicht so schlimm wäre, wenn man darauf vertrauen könnte, dass im Hintergrund diplomatisch etwas geschieht."

Zugute halten Baerbock Gerlach wie auch Funke allerdings, dass die Ministerin sich immer wieder dafür einsetzt, die katastrophale humanitäre Lage im Gazastreifen zu lindern, und dabei auch etwas bewirkt hat. Gerlach nennt als Beispiel, Baerbock habe mit darauf eingewirkt, dass die Kontrollen von Lastwagen mit Hilfsgütern an der Grenze zum Gazastreifen erleichtert worden seien. Zudem habe sich die Ministerin für deutsche Staatsbürger unter den Geiseln der Hamas eingesetzt. Und bei jedem ihrer Besuche in Israel nahm sich Baerbock die Zeit, mit Angehörigen der Verschleppten vertraulich zu sprechen.



"ES BRAUCHT VERTRAUEN"

Neben dem Krieg im Gazastreifen rückt vermehrt auch das Westjordanland in den Vordergrund, wo die Spannungen zwischen jüdischen Siedlern und den Palästinensern deutlich zunehmen und auch das israelische Militär mit Härte vorgeht. Auch hier wurde Baerbock bei ihrer jüngsten Visite in Jerusalem deutlich: "Es braucht Vertrauen", mahnte sie und forderte Israel auf, zur Beruhigung der Lage in dem teilweise besetzten Gebiet beizutragen. Es wäre ein gutes Zeichen, wenn Israel alle Siedlungsprojekte stoppen würde, schlug die Grünen-Politikerin vor und nannte den Siedlungsbau erneut einen Verstoß gegen das Völkerrecht. Sie sei "irritiert", wenn Teile der israelischen Regierung erwägten, im Westjordanland so vorzugehen wie im Gazastreifen.

Für Nahost-Experte Gerlach sind solche Äußerungen viel zu milde. "Mit Blick auf die Entwicklungen im Westjordanland sehe ich in der deutschen Außenpolitik bei der Sprachwahl eine leichte Veränderung", räumt er zwar ein, fügt aber hinzu: "Im Sprachmuster der Außenministerin steht Deutschland vorbehaltlos an der Seite Israels und dessen Sicherheit, die Sicherheit und der Schutz von Palästinensern werden zwar erwähnt, aber stets nachgeordnet." Stattdessen könnte Baerbock klar benennen, "wer für Gewalt verantwortlich ist, wer dazu aufruft ? was übrigens auch gegen israelisches Recht verstößt". Gegen diese Personen könnten dann Finanzsanktionen und Einreiseverbote verhängt werden. Dies hat die Europäische Union zwar mit Billigung Deutschlands schon gemacht, einseitige Schritte Berlins diesbezüglich hat es bislang aber nicht gegeben.

"MIT DRAMATISCHEN FOLGEN FÜR DIE REGION"

Was eine mögliche Konfliktlösung betrifft, ist Gerlach pessimistisch: "Israelische Entscheidungsträger sagen recht unverhohlen, der 7. Oktober habe die 'barbarische' Natur der Palästinenser gezeigt, die nur auf die Gelegenheit warteten, Israelis zu töten", berichtet er. "Über die Besatzung und die israelische Verantwortung für die Eskalation der Gewalt möchte man in dieser Lage gleichwohl nicht diskutieren. Man sucht die Ursache in der palästinensischen Mentalität." In Deutschland werde diese Geisteshaltung weitgehend ausgeblendet. Stattdessen werde argumentiert, Israel müsse in einem schwierigen Umfeld agieren und mit Härte vorgehen, aber als demokratischer Staat sehe sich Israel grundsätzlich dem humanitären Völkerrecht verpflichtet.

"Ich kann diesen Zusammenhang allerdings nicht erkennen", sagt Gerlach und betont: "Die Lage im Westjordanland ist hochgefährlich. Es könnte eine vergleichbare Situation wie im Gazastreifen entstehen, mit dramatischen Folgen für die Region." Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, hat zumindest für Baerbock ein Lob parat: "Ich habe das Gefühl, auch im persönlichen Gespräch mit Ministerin Baerbock, dass sie ein echtes Interesse daran hat, die Lage zu befrieden", sagte Schuster unlängst dem "Tagesspiegel".

(Mitarbeit Riham Alkousaa, Markus Wacket Redigiert von Christian Götz. Bei Rückfragen wenden Sie sich an berlin.newsroom@tr.com)

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