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24.09.2024 /06:00:00
WDHLG-FEATURE-Habeck und sein Kampf gegen die "Zumutungslosigkeit"

(Wiederholung vom Vorabend)

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Vizekanzler gibt sich bei Buchvorstellung über Merkel als Gegenmodell



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Grünen-Politiker: Liegengebliebene Probleme werden größer

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Spitzen gegen die Union
 
- von Andreas Rinke
Berlin, 23. Sep (Reuters) - Am Ende packt Robert Habeck
seine Grundphilosophie noch einmal in zwei Sätze: "Normalität
bedeutet weitgehend Zumutungslosigkeit", sagt der Vizekanzler
auf der Bühne des Renaissance-Theaters in Berlin. "Aber
Zumutungslosigkeit in einer sich rapide verändernden Welt
bedeutet, dass man die Probleme nur größer werden lässt." So
beschreibt der mutmaßliche Grünen-Kanzlerkandidat am Montagabend
bei einer Buchbesprechung die Politik von Angela Merkel - und
offenbart damit mehr über sich selbst als über die frühere
CDU-Kanzlerin. In den knapp 90 Minuten, in denen Habeck mit dem
"FAZ"-Journalisten Eckart Lohse dessen neues Buch über Merkel
vorstellt, erscheint der Grünen-Politiker selbst als politisches
Gegenmodell zu Merkel. Habeck betont selbst, dass er das Buch
weniger als historischen Abriss denn als Lehrbuch für die
heutige Zeit gelesen habe.

Fast zwangsläufig muss der Blick auf Merkel, die am Mittwoch von der CDU mit einem Festakt nachträglich zum 70. Geburtstag gewürdigt wird, deshalb düster ausfallen. "Das Buch ist schon, wenn ich das sagen darf, hart, also kurz vor einer Abrechnung", sagt der Grünen-Politiker. In der munteren Diskussion schnurrt Merkels 16-jährige Amtszeit auf die Fragen zusammen, ob Merkel "gut kommuniziert" habe ("nein"), ob sie für den AfD-Aufstieg mitverantwortlich sei ("vielleicht"), und ob sie in der Russland-Politik einen "historischen Fehler" begangen habe ("ja").

Zwar betont Habeck, dass er Merkel "nun wirklich" schätze, dass sie integrer Mensch sei - "und irgendwie wusste, was sich gehört und was sich nicht gehört", fügt er als Spitze gegen die derzeitige Unions-Führung hinzu. Trotzdem entsteht der Eindruck, als ob er gerade ihr jene Probleme vorwirft, die ihm die Arbeit als Wirtschaftsminister schwer machen - erst der drohende Gasmangel wegen des nötigen Ersatzes für russische Rohstoffe; dann der Kampf mit den hohen Gaspreisen und Inflation. "Wir haben einen hohen Preis bezahlt", betont der Vizekanzler mit Blick auf Merkels Russland-Politik, meint aber weniger die derzeit schlechten Umfragewerte seiner Partei.

Nun sind Buch-Präsentationen im politischen Berlin immer ein gewisses Risiko für Spitzenpolitiker. Aber aufs Glatteis muss sich Habeck gar nicht begeben: Weder muss er erklären, was damals eigentlich für Merkel die bezahlbaren Alternativen für russisches Gas gewesen wären. Noch sorgt die Beschäftigung mit den Fehlern einer Alt-Kanzlerin dafür, dass er auf mögliche aktuelle Fehler der Ampel-Koalition eingehen muss. Als es dann noch um Merkels Wende in der Atompolitik 2011 geht, lebt der Vizekanzler sogar richtig auf. "Allein wegen dieser Seiten sollten Sie das Buch lesen", fordert er die Zuschauer auf und erntet Lachen. Denn zuvor hatte Lohse erklärt, dass ausgerechnet Bayerns damaliger Umweltminister Markus Söder - heute CSU-Chef und Ministerpräsident - und Söders Vorgänger Horst Seehofer die treibenden Kräfte hinter Merkels plötzlichem Ausstieg aus der Kernenergie nach dem Unfall von Fukushima waren - wovon sie heute nichts mehr wissen wollen.

Aber immer wieder kommt Habeck zu dem Punkt zurück, dass Merkel im Rückblick als Zauderin wirkt und er und die Ampel-Regierung im Kontrast fast zwangsläufig als Macher. "Sorglosigkeit durch Zumutungslosigkeit" sei damals die Einstellung gewesen. Man müsse aber Probleme anpacken, auch wenn es schwierig sei. Immerhin räumt Habeck ein, dass auch Merkel darauf habe achten müssen, in wechselnden Koalition politisch zu überleben. Und dann fällt im Zusammenhang mit Reformen der Satz, der ihm zwar im Theater Applaus einbringt, der aber aus Sicht der Grünen-Kritiker als ein Grundproblem gerade nach den Heizungsgesetz-Wirren gesehen wird: "Es wäre jedenfalls ein Versuch wert, das mal zu probieren."

(Redigiert von Jörn Poltz. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)

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