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20.02.2025 /11:11:31
HINTERGRUND-"Drei Jahre sind zu viel" - Der Alltag von Kindern in der Ukraine

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"Der Krieg hat sie erwachsen werden lassen"

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Bedarf an psychologischer Hilfe nimmt stark zu

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"Wir stehen an einem Scheideweg"
 
- von Margaryta Chornokondratenko und Anastasiia Malenko
Kiew, 20. Feb (Reuters) - Dutzende achtjährige
Schülerinnen und Schüler, mit Stiften und Büchern in den Händen,
steigen in den Keller ihrer Grundschule in Kiew. Oben heulen die
Sirenen wegen russischer Angriffe mit ballistischen Raketen.
Unten im Luftschutzkeller soll der Unterricht fortgesetzt
werden, einige Kinder üben Schreibschrift, andere lesen ein
Buch. "Der Krieg hat sie erwachsen werden lassen", sagt Liudmyla
Jaroslawzewa, ihre Lehrerin am Kiewer Kunstlyzeum "Zmina". Sie
erinnert sich daran, wie die Kinder im ersten Kriegsjahr noch
weinten und sogar in Panik gerieten, wenn die Sirene ertönte.

Doch drei Jahre nach Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022 hat diese Reife ihren Preis. Die Kinder haben gelernt, mit Angst zu leben, aber das hat Folgen: Behörden verzeichnen einen Anstieg der Zahl von Minderjährigen, die psychische Hilfe suchen. Experten befürchten, dass diese seelischen Narben bleiben könnten, selbst wenn die Kämpfe bald eingestellt würden. Über 50.000 Kinder suchten in den ersten neun Monaten des Jahres 2024 professionelle Hilfe wegen psychischer Probleme - dreimal mehr als 2023. Das geht aus Daten hervor, die Reuters vom ukrainischen Bildungsministerium zur Verfügung gestellt wurden.

Während in den ersten Kriegsmonaten die Herausforderung im Vordergrund stand, eine sichere Ausbildung zu gewährleisten, stieg 2023 die Nachfrage nach psychologischer Unterstützung für Lehrer und Schüler stark an, wie das Ministerium weiter mitteilt. "Kinder im Grundschulalter erleiden, besonders in Kriegszeiten, oft psychische Traumata aufgrund der instabilen Situation, der Luftangriffe, des Verlusts von Angehörigen oder ihres Wohnorts." Die Folge sind Angstzustände und Verhaltensauffälligkeiten. Daher sei es umso dringlicher, psychische Bedürfnisse zu erkennen und Unterstützung zu leisten.

PANZER, FLUGZEUGE UND BOMBEN

Walentyna Marunijak ist 56 Jahre alt und unterrichtet an der "Zmina"-Schule Kunst. Sie hat die Entwicklungen, die die Kinder seit Kriegsbeginn gemacht haben, in deren Kunstwerken nachvollzogen. "Früher malten sie hauptsächlich Panzer, Flugzeuge, Bombardierungen. Jetzt malen sie die Sonne, Regenbögen, Blumen und etwas Schönes... Sie wollen Sieg, Freude, Frühling und Ruhe", berichtet Marunijak. Als sie ihre Klasse bat, die einprägsamsten Momente der Invasion zu zeichnen, die mittlerweile schon ein Drittel ihres Lebens umfasst, stellten einige Gesangswettbewerbe oder neue Haustiere dar.

Andere zeichneten jedoch lang ersehnte Erinnerungen an friedliche Zeiten, wieder andere stattdessen Panzer oder Angehörige im Krieg. Das zeigte sich bei einem Unterrichtsbesuch von Reuters Anfang dieses Monats. Die achtjährige Solomija Karanda malte eine Landschaft, die sie vermisst - ein Flugzeug über einem Dorf in der Südukraine, wo sie früher ihre Großmutter besuchte, die wegen des Krieges geflohen ist. "Eine Rakete schlug in der Nähe des Hauses meiner Oma ein, aber jetzt wird es wieder aufgebaut", erzählt Karanda und fügt hinzu: "Sie bekam Angst und ging nach Rumänien."

Nach drei Jahren wird die Achtjährige immer noch unruhig, wenn sie bei Luftalarm allein zu Hause ist, wie sie erzählt. "Ich schließe normalerweise die Tür zu meinem Zimmer und lege mich mit meinen Kuscheltieren ins Bett. Das macht es weniger beängstigend." Ihr Klassenkamerad, der acht Jahre alte Nikita Bondarenko, hat gelernt, sich mit seiner jüngeren Schwester an die dickste Wand der Wohnung zu kauern. "Ich sage ihr, Mascha, Raketen und Bomben fliegen, und decke sie mit Decken und Kissen zu", erzählt er, während er einen Panzer zeichnet, inspiriert von den Geschichten seines Vaters, der in den Streitkräften dient.

KINDER IN FRONTNÄHE

Während die Kinder in Kiew mit Unterbrechungen durch Luftalarm zurechtkommen müssen, schaffen es Schulkinder in der Nähe der Front aufgrund der Sicherheitsbedenken oft gar nicht zur Schule. Das bedeutet, dass sie ihre Altersgenossen selten von Angesicht zu Angesicht sehen. "Das ist ein riesiges Problem, das uns in Zukunft erwarten wird, denn diese Generation von Kindern hatte vier Jahre lang keine Offline-Interaktionen - also Kommunikation, Sozialisierung, Anpassung an die Routine", sagt Katerina Timakina, 32, Gründerin von Sane Ukraine, das Schulungen zur psychologischen Unterstützung von Lehrern organisiert. Und dem Krieg sei die Corona-Pandemie vorausgegangen, ebenso eine Phase der Isolation.

"Wir stehen an einem Scheideweg und sehen uns mit posttraumatischen Belastungsstörungen und posttraumatischem Wachstum konfrontiert", sagt Timakina. Lehrer, Psychologen und Kinder sind es gewohnt, in einem Zustand chronischer Erschöpfung zu leben, ohne ein klares Ende in Sicht, sagen Experten. Das Gesundheitsministerium in Kiew schätzt, dass 2022 mehr als 90 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer mindestens eines der Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung aufwiesen. 2023 hieß es, dass bis zu vier Millionen Kinder psychologische Hilfe benötigen könnten, um das Trauma der Invasion zu verarbeiten.

Jaroslawzsewa, die Lehrerin in Kiew, versucht Ruhe und eine positive Einstellung auszustrahlen, weil sie weiß, wie sensibel die Kinder sind. Aber sie hat Tränen in den Augen, wenn sie an ihre Mutter und ihren Mann denkt, die in den von Russland besetzten Gebieten geblieben sind. Sie sagt, das "verrückte Tempo", das ihre Achtjährigen vorgeben, helfe ihr durchzuhalten. Aber: "Drei Jahre sind zu viel."

(Bearbeitet von Alexander Ratz Redigiert von Kerstin Dörr Bei Rückfragen wenden Sie sich an berlin.newsroom@tr.com)

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