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13.01.2025 /19:42:43
FEATURE -"Ich spreche wenigstens die Wahrheit" - Underdog Scholz kämpft

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SPD-Kanzlerkandidat startet von hinten in heiße Wahlkampfphase



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Angriffe vor allem auf die Union

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Scholz will seriös erscheinen

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Kanzler zeigt Anflug von Selbstkritik
 
- von Andreas Rinke
Bielefeld/Lünen, 13. Jan (Reuters) - Das Schicksal als
politisch Totgesagter kennt Olaf Scholz. Schon 2021 lag er im
Bundestagswahlkampf hoffnungslos hinten, um dann doch noch zu
gewinnen. Als der SPD-Kanzlerkandidat am Montag in Bielefeld in
die heiße Phase des Wahlkampfes startet, bekommt Scholz zu
spüren, dass sich dies nun wiederholt. Als Underdog betritt der
SPD-Politiker die Bühne im Veranstaltungszentrum Lokschuppen,
die Begeisterung der 500 Besucher ist anfangs spürbar gebremst.
Angesichts schlechter Umfragewerte für Person und Partei scheint
sogar seinen Anhängern etwas der Glauben abhanden gekommen zu
sein, dass die SPD den großen Rückstand hinter CDU und CSU noch
aufholen kann. Aber Scholz ficht das nicht an. Unbeirrt tritt er
an diesem Tag vor seine Anhänger und lässt sich jeweils eine
Stunde ausfragen, erklärt - und teilt Richtung Union aus.
Immerhin meldet ihm die SPD Bielefeld, dass man doppelt so viele
Anmeldungen wie Plätze hatte.

Und Scholz macht dieselbe Erfahrung wie in anderen Bürgerdialogen, die er als Kanzler in Rekordzahl absolviert hat: In Bielefeld etwa interessieren sich die Zuhörer kaum für die in der Öffentlichkeit und Berlin diskutierten Themen - etwa nach der Ukraine oder Trump wird er gar nicht gefragt. Stattdessen wollen die Frager Aufklärung vom Kanzler, wie man etwa Lehrermangel oder Kinderarmut beseitigt - was Scholz durchaus als Bestätigung für seine strategische Aufstellung auch in diesem Wahlkampf empfindet. Schon 2021 hatte der SPD-Politiker Journalisten nach der Wahl triumphierend erklärt, dass seine Partei damit erfolgreich gewesen sei, jene Themen zu besetzen, nach denen Medien oft nicht fragten - die aber den Alltag vieler Menschen bestimmten.

In Bielefeld merkt Scholz allerdings am Ende selbst, dass er vor lauter Erklären noch nicht einmal seine zentralen Wahlkampf-Botschaften losgeworden ist. Also teilt er nun gegen die Union aus, wirft ihr unseriöse Wahlversprechen vor. CDU und CSU riskierten bewusst große Haushaltslöcher - "ganze Krater", um Besserverdienende zu entlasten. "Glauben Sie diesmal den Programmen", fordert er seine Zuhörer auf. Die Union meine, was sie aufschreibe. In Lünen fügt Scholz hinzu: "Aber sie sagt eben nicht, wer die Zeche zahlen soll."

Sich selbst und die SPD präsentiert der Kanzler dagegen als Hort der Seriosität, mit durchgerechneten Steuerentlastungs-Versprechen. Auch wenn er bei den SPD-Anhängern Applaus ernten könnte, wolle er nichts versprechen, was er nicht halten kann. So wehrt Scholz die Forderung nach der Abschaffung der privaten Krankenversicherung ab, will nur etwas mehr Solidarität. Wie in früheren Bürgerdialogen dämpft er Forderungen aus dem Publikum, die Beamten in die gesetzliche Krankenversicherung einzubeziehen. Er weist die Hoffnung der Bezieher von Direktversicherungen als unfinanzierbar zurück, dass der 2004 eingeführte Krankenkassenbeitrag auf diese Form der Altersvorsorge abzuschaffen. "Aber ich spreche wenigstens die Wahrheit", tröstet er die Zuhörer.

Die Stimme erhebt der Kanzler nur ein einziges Mal, als in Bielefeld zwei Demonstranten in der Mitte des Raums aufspringen und lautstark gegen der Israel-Politik kritisieren. Scholz hält dagegen, betont Israels Recht auf Selbstverteidigung, fordert eine Zweistaatenlösung, die humanitäre Versorgung der Menschen im Gazastreifen, aber eben auch die Freilassung der von der Hamas festgehaltenen Geiseln. "Wer Fragen stellt, sollte die Antworten anhören", mahnt Scholz etwas lauter und erntet breiten Applaus, als das Pärchen aus dem Saal geleitet wird.

In Lünen präsentiert er dagegen noch eine Überraschung - Selbstkritik. Auf die Frage eines jungen Mannes, was er denn in einer zweiten Amtszeit besser machen würde, antwortet Scholz, dass er die nicht funktionierende Koalition früher hätte beenden sollen - und erntet kräftige Zustimmung der SPD-Anhänger. Viele hatten den Kanzler dafür kritisiert, in der Ampel zu lange moderiert zu haben. Dann schiebt er etwa verschriemelt hinterher, dass er sich wohl auch darum bemühen würde, politische Ziele besser zu erklären - bevor man Reformen angeht. "Das macht es dann noch schwerer, das hinzubekommen - aber am Ende müssen wir alle nachvollziehen können, was passiert."

(Bericht von Andreas Rinke; redigiert von Birgit Mittwollen. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)

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