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25.09.2024 /14:23:01
TOP-THEMA-Grüne bauen Parteispitze um - Habeck will Votum über Kanzlerkandidatur

(durchweg neu)

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Lang und Nouripour kündigen Rücktritt an



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Parteitag im November soll neues Führungs-Duo wählen



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Habeck-Vertraute und Linken-Vertreter für Nachfolge im Gespräch



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Habeck will auf Parteitag auch Votum über Kanzlerkandidatur





- von Holger Hansen
Berlin, 25. Sep (Reuters) - Nach einer Serie von
Wahlniederlagen ziehen die Grünen personelle Konsequenzen und
bauen die Parteiführung um. Die Vorsitzenden Ricarda Lang und
Omid Nouripour kündigten am Mittwoch ihren Rückzug von der
Parteispitze an. Der ohnehin geplante Bundesparteitag Mitte
November in Wiesbaden soll nun eine neue Parteiführung wählen.
Im Gespräch dafür ist auch Wirtschafts-Staatssekretärin
Franziska Brantner, eine enge Vertraute von Wirtschaftsminister
Robert Habeck. Das wäre eine wichtige Weichenstellung für eine
enge Abstimmung im Fall einer Kanzlerkandidatur von Habeck.
Dieser erklärte, auch er trage Verantwortung für die Misere der
Grünen. Auf dem Parteitag strebe er daher "eine offene Debatte
zu einer möglichen Kandidatur und ein ehrliches Votum in
geheimer Wahl" an.

Mit ihrer Rücktrittserklärung überraschten Nouripour und Lang auch die engere Grünen-Führung und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Sie hätten die Entscheidung im Bundesvorstand selbst getroffen, hieß es bei den Grünen. Die Fraktionschefinnen Britta Haßelmann und Katharina Dröge seien am Morgen informiert worden. Parteiintern war indes seit Wochen die Frage nach personellen Konsequenzen aufgeworfen worden. In der Kritik stand dabei allerdings vor allem Bundesgeschäftsführerin Emily Büning als Wahlkampfmanagerin. Der gesamte Bundesvorstand tritt nun mit Wirkung zum Parteitag Mitte November zurück und führt bis dahin die Geschäfte kommissarisch weiter.

Auf die Arbeit der Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP hat die Entscheidung nach Darstellung aus dem Umfeld Habecks keine Auswirkungen. Dies sei eine parteiinterne Angelegenheit. "Das hat keinerlei Auswirkung auf die Koalition", sagte auch Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Scholz habe "im Umfeld" der Pressekonferenz am Mittwochmorgen von dem Schritt erfahren.

Die Koalition befindet sich allerdings ohnehin in schwierigem Fahrwasser. Die Bundesregierung hat in Umfragen kaum noch Rückhalt, und seit Monaten wird immer wieder über gemeinsame Vorhaben gestritten. Der Rückzug der Grünen-Vorsitzenden dürfte die Verhandlungen etwa über den Bundeshaushalt 2025 nicht erleichtern. Dieser soll im Haushaltsausschuss unmittelbar vor dem Grünen-Parteitag beschlossen werden, der vom 15. bis zum 17. November in Wiesbaden angesetzt ist. Die nächste Bundestagswahl ist für den 28. September 2025 geplant, sofern die Ampel-Koalition nicht vorher zerbricht.

HABECK WILL PARTEITAGSVOTUM ÜBER KANDIDATUR

Auf dem Parteitag fällt voraussichtlich auch eine Entscheidung, wer die Grünen in die Bundestagswahl führt. Habeck will sich für eine mögliche Kanzlerkandidatur den Rückhalt der Grünen-Parteibasis holen. "Ich möchte auf dem Parteitag eine offene Debatte zu einer möglichen Kandidatur und ein ehrliches Votum in geheimer Wahl", erklärte Habeck. Er attestierte Lang und Nouripour "große Stärke und Weitsicht". Sie machten den Weg frei für einen kraftvollen Neuanfang: "Das ist nicht selbstverständlich, es ist ein großer Dienst an der Partei."

Habeck machte deutlich, dass auch er als Vizekanzler und Wortführer der Grünen in der Bundesregierung Anteil an der Krise der Partei habe. "Die Wahlniederlagen bei den letzten Wahlen sind unstrittig vom Bundestrend beeinflusst", sagte Habeck. "Wir tragen hier alle Verantwortung, auch ich." Der Parteitag im November solle der Ort werden, "wo sich die Grünen neu sortieren und neu aufstellen werden, um dann mit neuer Kraft die Aufholjagd zur Bundestagswahl zu beginnen". In zahlreichen Stellungnahmen von Grünen aus Bund und Ländern wurde der Rückzug der Parteiführung als Schritt für einen Neuanfang bewertet.

SCHOLZ UND ENGERE GRÜNEN-FÜHRUNG ÜBERRASCHT

Nouripour und Lang teilten ihre Entscheidung in einem sehr kurzfristig anberaumten Statement mit, bei dem Fragen von Journalisten nicht zugelassen wurden. "Das Wahlergebnis am Sonntag in Brandenburg ist ein Zeugnis der tiefsten Krise unserer Partei seit einer Dekade", sagte Nouripour. Der Bundesvorstand habe in den vergangenen Tagen gemeinsam und intensiv beraten. Das Ergebnis sei: "Es braucht einen Neustart."

Lang sagte, die Neuformation der Parteispitze könne auch ein Baustein für die strategische Neuaufstellung der Partei sein: "Und diese braucht es, denn die Bundestagswahl im nächsten Jahr ist nicht einfach irgendeine Wahl." Es brauche neue Gesichter. "Jetzt ist nicht die Zeit, um am eigenen Stuhl zu kleben."

Die Grünen hatten bei der Europawahl im Juni ein Debakel erlebt und waren von 20 Prozent auf 11,9 Prozent eingebrochen. Bei drei Landtagswahlen in Ostdeutschland gelang ihnen nur in Sachsen der Einzug ins Parlament. In bundesweiten Umfragen hatten sich die Grünen - anders als SPD und FDP - trotz der Unbeliebtheit der Ampel lange bei ihrem Ergebnis der Bundestagswahl 2021 von 14,8 Prozent gehalten. Auch dort setzte aber ein Abwärtssog ein auf zuletzt noch zehn bis elf Prozent.

Lang und Nouripour führen die Partei seit Februar 2022. Regulär wären sie mindestens bis Ende 2025 im Amt. Sie äußerten sich nicht zu ihrer Nachfolge. Im Gespräch für die Doppelspitze sind nach Medienberichten Wirtschafts-Staatssekretärin Brantner mit den Bundestagsabgeordneten Felix Banaszak oder Andreas Audretsch an ihrer Seite. Eine Stellungnahme zu einer möglichen Kandidatur war zunächst von keinem zu erhalten.

Brantner ist eine enge Vertraute von Habeck und war als seine Wahlkampfmanagerin im Gespräch. Banaszak war früher Parteichef in Nordrhein-Westfalen und ist wichtiger Drahtzieher des linken Flügels. Audretsch zählt auch zum linken Flügel und ist als Vizefraktionschef für Wirtschaft und Soziales zuständig. Banaszak steht eher für Klimaschutz, einem zentralen Thema der Grünen. Sie wollen aber auch bei sozialer Sicherheit punkten.

Die Koalitionspartner zollten Lang und Nouripour Respekt. Die SPD-Spitze sprach von einer "stets verlässlichen und vertrauensvollen" Zusammenarbeit. Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner erklärte, die Zusammenarbeit sei "menschlich immer fair" gewesen. Die Opposition sprach indes von einem weiteren Beleg für den Zerfall der Ampel-Koalition. "Die Fliehkräfte in der Ampel nehmen weiter zu", sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der Unions-Faktion, Thorsten Frei. AfD-Co-Fraktionschefin Alice Weidel forderte Kanzler Scholz auf, die Vertrauensfrage im Bundestag zu stellen und damit die Weichen für Neuwahlen zu stellen.

(Mitarbeit Andreas Rinke und Alexander Ratz, redigiert von Kerstin Dörr. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)

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