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Ex-Banker wird Lindner-Nachfolger im Finanzministerium
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Wissing weiter Verkehrsminister, tritt aus FDP aus
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Merz: Kanzler muss sofort Vertrauensfrage stellen
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Bundespräsident offen für Auflösung des Bundestags
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Habeck: Regierung ist handlungsfähig
(neu: Steinmeier, Lindner, Koalitionskreise zu letzten Minuten vor Ampel-Bruch, Reaktionen aus der Wirtschaft)
- von Christian Krämer, Andreas Rinke, Alexander Ratz, Holger Hansen und Markus Wacket -
Berlin, 07. Nov (Reuters) - Nach dem Bruch der Ampel zeichnen sich die Konturen der rot-grünen Minderheitsregierung ab. Nachfolger des entlassenen Christian Lindner als Finanzminister wird Jörg Kukies, wie ein Regierungssprecher am Donnerstag bestätigte. Der frühere Goldman-Sachs-Investmentbanker ist ein Vertrauter von Kanzler Olaf Scholz (SPD) und war zuletzt Staatssekretär im Kanzleramt. Verkehrsminister Volker Wissing will trotz des Rückzugs anderer FDP-Minister seinen Posten in der Regierung behalten. Er kündigte zudem an, aus der FDP austreten zu wollen. Eine besondere Rolle kommt nun Oppositionsführer Friedrich Merz zu. Umstritten ist, ob Scholz wie geplant erst Mitte Januar die Vertrauensfrage im Bundestag stellen sollte, die dann nach einer Niederlage den Weg zur Neuwahl ebnen würde. Merz und Scholz wollten sich am Mittag im Kanzleramt zu Beratungen treffen.
CDU-Chef Merz sagte am Vormittag, wenn Scholz den Weg zu schnellen Neuwahlen freimache, werde die Union prüfen, welche Gesetzesprojekte sie bis dahin unterstützen könne. Die Vertrauensfrage sollte aber sofort gestellt werden - "spätestens Anfang nächster Woche". Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier könne dann das Parlament innerhalb der Frist von 21 Tagen auflösen. "Wir sind selbstverständlich bereit, Gespräche zu führen, selbstverständlich bereit, auch hier Verantwortung für unser Land zu übernehmen." Es gebe keinen Grund, mit Neuwahlen bis zum Frühjahr zu warten.
Steinmeier zeigte sich grundsätzlich offen für den Weg zu Neuwahlen über eine Vertrauensfrage. Das Land brauche eine stabile Regierung. Das werde sein Prüfungsmaßstab sein. Er müsse als Bundespräsident über die Auflösung des Bundestags entscheiden. "Es ist nicht die Zeit für Taktik und Scharmützel. Ich erwarte von allen Verantwortung." Steinmeier ergänzte, die von Scholz beantragte Entlassung von FDP-Ministern werde er noch am Donnerstag vollziehen. Dies betrifft neben Lindner Justizminister Marco Buschmann und Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger.
Nach drei schwierigen Jahren mit dem Krieg in der Ukraine, Rekordinflation und Rezession zerbrach die erste Ampel-Regierung im Bund am Mittwoch - knapp ein Jahr vor der regulären Wahl. Scholz gab dafür Lindner die Schuld. Er sprach von fehlendem Vertrauen und zu vielen Querschüssen. In seinem Umfeld hieß es, der Kanzler sei auf mehrere Szenarien vorbereitet gewesen. Laut Scholz könnten Neuwahlen bis spätestens Ende März stattfinden.
Lindner warf dem Kanzler mangelnde Führungsstärke und eine falsche Wirtschaftspolitik vor. "Unser Land darf keine Zeit verlieren", sagte er am Donnerstag in der Parteizentrale in Berlin. Es brauche schnell Neuwahlen. Scholz habe ihn zwingen wollen, 15 Milliarden Euro zusätzliche Schulden zu machen. Die Regierung habe grundsätzlich zu wenig gegen die Wirtschaftsschwäche gemacht, zum Beispiel komme die Wachstumsinitiative nicht richtig voran. "Mich hat das menschlich aufgerieben."
Bei Spitzenpolitikern von SPD und Grünen hieß es, der Bruch habe sich abgezeichnet, weil es Lindner darauf angelegt habe. Er hatte in einem Grundsatzpapier eine radikale Wende in der Wirtschaftspolitik gefordert, verbunden mit der Abwicklung von Ampel-Gesetzen, die SPD und Grünen wichtig sind. Das Dokument wurde von Teilen der Ampel als Scheidungspapier aufgefasst.
In Koalitionskreisen hieß es, Lindner habe am Mittwochabend beim Krisentreffen im Kanzleramt zuerst Neuwahlen vorgeschlagen, Scholz dies aber abgelehnt. Die FDP habe daraufhin um eine Unterbrechung gegeben, in der der Vorschlag von der "Bild" berichtet worden sei. Nach der Pause habe Lindner deutlich gemacht, dass er eine Abweichung von der Schuldenbremse - wie von SPD und Grünen gefordert - nicht mittragen werde. "Dann, lieber Christian, möchte ich nicht mehr, dass Du meinem Kabinett angehörst und werde morgen früh dem Bundespräsidenten mitteilen, dass Du entlassen wirst", habe Scholz erwidert. Lindner habe gesagt, dann gebe es immerhin Klarheit. Daraufhin habe etwa zehn Sekunden Schweigen geherrscht, bis Scholz gesagt habe: "So. Doof."
Die FDP liegt in Umfragen unter der Fünf-Prozent-Hürde. Ihr steht eine Zerreißprobe bevor: Das Vorgehen Lindners, der öffentlich starken Druck auf Scholz und Vizekanzler Robert Habeck von den Grünen ausgeübt hatte, ist bei den Liberalen nicht unumstritten. Wissing sagte, Scholz habe ihn am Mittwoch gefragt, ob er trotz des Bruchs der Koalition Minister bleiben wolle. Er sei dazu bereit gewesen. Da er seine Partei nicht in Schwierigkeiten bringen wolle, habe er Lindner seinen Austritt aus der FDP angekündigt. "Ich möchte mir selbst treu bleiben." Er habe schon früher deutlich gemacht, dass er sich eine konstruktivere Zusammenarbeit in der Ampel gewünscht habe.
Habeck zufolge ist die Bundesregierung auch nach dem Wahlsieg von Donald Trump in den USA handlungsfähig. Sie könne ihre Arbeit "gut weitermachen", sagte er im Deutschlandfunk. Allerdings sei es eine schwere Hypothek, dass die Regierung keinen Haushalt mehr für das kommende Jahr beschlossen habe. Es habe zuletzt noch eine Lücke im Haushaltsentwurf von fünf bis acht Milliarden Euro gegeben. "Natürlich ist es möglich, wenn man auch will." Die Regierung hätte diese Lücke stopfen können. Insofern sei die Entscheidung Scholz' folgerichtig und konsequent gewesen, Lindner zu entlassen. Außenministerin Annalena Baerbock warf Lindner vor, keine Verantwortung mehr für Deutschland tragen zu wollen. Dies sei aber weiter nötig. "Das tun wir jetzt auf andere Weise", sagte die Grünen-Politikerin in der ARD.
Wirtschaftsverbände forderten eine schnelle Rückkehr zu stabilen politischen Verhältnissen. "Die Unsicherheiten für die Unternehmen sind mit dem Bruch der Regierungskoalition noch größer geworden", sagte DIHK-Präsident Peter Adrian. "Wir hoffen deshalb auf eine kurze Übergangsphase." Industrie-Präsident Siegfried Russwurm verwies auf das ohnehin schon schwierige Umfeld. "Angesichts der weltpolitischen Lage und der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung des Standorts Deutschland brauchen wir jetzt so schnell wie möglich eine neue, handlungsfähige Regierung mit eigener parlamentarischer Mehrheit."
(Mitarbeit von Rene Wagner, redigiert von Hans Busemann. Bei Rückfragen wenden Sie sich an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)