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03.07.2024 /16:23:47
ANALYSE-Scholz im Etat-Ringen: Zerrissen zwischen SPD und Ampel-Stabilität

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Zerrissen zwischen Parteiwünschen und Regierungszusammenhalt



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Kanzler-Abhängigkeit von Lindner bei Haushalt



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Im September wartet Schock bei Ostwahlen



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SPD-Politiker nervös - Scholz-Lager vertröstet auf 2025





- von Andreas Rinke -

Berlin, 03. Jul (Reuters) - Rund zwölf Minuten dauerte die Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz in der SPD-Fraktion am Dienstag. Obwohl Fraktionschef Rolf Mützenich schon in der vergangenen Woche energisch gefordert hatte, dass die Ampel-Regierung endlich einen überzeugenden Haushaltsentwurf für 2025 vorlegen solle, nannte Scholz keinerlei Inhalte. Er verwies wie am Mittwoch im Bundestag auf das Endspiel im Ringen mit Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP). Der Hinweis auf eine nahe Einigung stellte ungeduldige Sozialdemokraten noch einmal ruhig. Aber dies verdeckt den enormen Druck, unter dem Scholz in seiner Partei steht. Er steckt in einem Dilemma.

NERVÖSE SPD FORDERT

In der SPD bröckelt die für die Partei bisher ungewöhnlich große Geschlossenheit zwischen Regierung, Fraktion und Partei. Die SPD-Spitze bog am Montag zwar ein Mitgliederbegehren ab, das die Fraktion zwingen sollte, nur einem Haushalt zuzustimmen, der nötige Investitionen garantiert und soziale Einsparungen vermeidet. Aber auch die Partei- und Fraktionsführung forderte bisher eine Haushaltslösung mit einem erneuten Aussetzen der Schuldenbremse oder neuen Sondertöpfen etwa für die Ukraine. Angesichts schlechter Umfragewerte und Rückmeldungen von einer zunehmend unzufriedenen SPD-Basis pochen immer mehr Mandatsträger darauf, dass Scholz für einen großen Wurf ein Machtwort gegenüber der FDP spricht.

Am Dienstagabend warnte Matthias Miersch, Sprecher der Parlamentarischen Linken, dass man nicht die Ausgaben für die Ukraine gegen Sozialausgaben ausspielen dürfe. Genau das werfen die Sozialdemokraten der FDP angesichts der Weigerung vor, Ausnahmen von der Schuldenbremse zu akzeptieren.

Die Unzufriedenheit ist so groß, dass im Hintergrund einzelne SPD-Landesvorsitzende schon davon sprechen, dass Scholz Lindner notfalls entlassen und mit einer Minderheitsregierung weitermachen solle. "Wenn wir so weitermachen und immer nur zwischen FDP und Grünen moderieren, wird die SPD verlieren", prophezeit ein Spitzenpolitiker hinter vorgehaltener Hand.

SCHOLZ KANN "SEIN" PROJEKT NICHT SCHEITERN LASSEN

Genau da steckt für Scholz das Problem: Der Kanzler ist abhängig von Finanzminister Lindner, der als Einziger einen Haushaltsentwurf vorlegen kann. Das in der SPD immer energischer eingeforderte Ziehen der "Richtlinienkompetenz" nutzt dem Kanzler im Fall der Haushaltsverhandlungen wenig.

Scholz will zudem nach Angaben aus Regierungskreisen auf keinen Fall einen Koalitionsbruch - was Lindner weiß. Schließlich hatte Scholz die Ampel als "Fortschrittskoalition" gefeiert - die zudem wohl die einzige Konstellation darstellt, in der er Kanzler sein kann. Scholz will das Bündnis bis 2025 fortsetzen.

Diese Abhängigkeit von der FDP macht eine Lösung für den Sozialdemokraten so schwierig, weil er zwischen Parteiwünschen und Regierungszusammenhalt zerrissen ist. Wenn am Freitag aus Sicht der SPD nur ein halbherziger Wurf mit dem Etat 2025 und dem von Scholz angekündigten "Wachstumsturbo" präsentiert werden sollte, wird es in der Partei weiter gären.

NÄCHSTER SCHOCK WARTET BEI WAHLEN

Die SPD-Nervosität erklärt sich auch aus zwei weiteren Entwicklungen. So müssen sich die Abgeordneten überlegen, wie ihre Zukunft nach der nächsten Bundestagswahl aussieht. Angesichts schlechter Umfragewerte rechneten sich die meisten ein Jahr vorher aus, dass ihr Wiedereinzug ins Parlament gefährdet sein dürfte, heißt es in der Fraktion.

Zudem stehen im September in Sachsen, Thüringen und Brandenburg Landtagswahlen an. Zumindest in Sachsen und Thüringen dürfte die SPD laut Umfragen nur einstellige Ergebnisse erzielen. Möglicherweise droht sogar ein Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde, was ein Debakel für die Volkspartei wäre. Als problematische Themen für alle Ampel-Parteien gelten vor allem im Osten die Themen Bürgergeld, illegale Migration und die Militärhilfe für die Ukraine.

Befragungen von Meinungsforschungsinstituten zeigen zudem, dass der SPD trotz Kanzlerschaft ihre Stammwähler abhandenkommen. Das führt in der Partei hinter vorgehaltener Hand zur Debatte, ob man mit Themen wie Bürgergeld überhaupt eigene potenzielle Wähler anspricht oder nicht abschreckt. Jetzt versucht die SPD-Spitze eine Korrektur und will nicht staatliche Leistungsempfänger, sondern die "arbeitende Mitte" - wieder mal - in den Mittelpunkt ihrer Politik stellen.

ZIEHT SCHOLZ NOCH?

Die Parteispitze hat sich zwar mehrfach bemüht, eine Debatte über Verteidigungsminister Boris Pistorius als Kanzlerkandidaten-Alternative auszutreten. Aber die Diskussion wabert weiter. Eine Forsa-Umfrage zeigte etwa jüngst, dass sich nur 27 Prozent der Wahlberechtigten einen Kanzler Scholz wünschen. Seit Monaten appelliert das Scholz-Lager deshalb an die eigenen Reihen, Ruhe zu bewahren. 2025 werde es wie 2021 einen späten Aufschwung für den Kanzler und damit die SPD bringen, was letztlich den Wahlsieg sichern werde. "Dafür müssten wir aber jetzt einen aus Sicht der SPD-Wähler überzeugenden Haushalt für das Wahljahr vorlegen. Anders funktioniert das nicht", heißt es warnend selbst in der SPD-Spitze.

(Redigiert von Thomas Seythal. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)

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