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28.10.2024 /14:46:38
ANALYSE-Bringt der November den Bruch der Ampel? Wahrscheinlichkeit ist gestiegen

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Insider: Gegenseitiges Vertrauen weg, Ampel im Prinzip durch



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Potenzielle Knackpunkte: Haushalt, Rentenpaket, Bürgergeld

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Schlechte Umfragewerte sprechen allerdings gegen Neuwahlen

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Lindner pocht auf Kurswende in Wirtschaftspolitik
 
- von Christian Krämer und Andreas Rinke und Sarah Marsh
Berlin/Neu-Delhi, 28. Okt (Reuters) - Das Risiko eines
Bruchs der Ampel-Regierung ist massiv gestiegen. Das räumen
hochrangige Vertreter von SPD, Grünen und FDP hinter
vorgehaltener Hand ein. Was die Koalition nach drei schwierigen
Jahren mit Ukraine-Krieg, Energieengpässen und hoher Inflation
noch zusammenhält, sind die schwachen Umfragewerte aller
Partner, die jedes Neuwahl-Szenario erschweren. Das gegenseitige
Vertrauen ist aber weg, wie mehrere hochrangige Vertreter der
Regierung sagen. Der November kann den Bruch bringen, wenn die
Ampel beispielsweise den Haushalt nicht verabschiedet bekommt.

SPD, Grüne und FDP wollen eigentlich bis zur Bundestagswahl im September 2025 weitermachen. Ob dies gelingt, ist aber fraglich. "Wetten würde ich nicht darauf, dass es mit dem Haushalt jetzt klappt", sagt ein FDP-Regierungsmitglied der Nachrichtenagentur Reuters. Derzeit liegt der Budgetentwurf für 2025 im Parlament. Der Haushaltsausschuss soll bis Mitte November die letzten Details festlegen. Im Entwurf klafft weiter eine Lücke, von der unklar ist, wie sie geschlossen werden kann. Finanzminister Christian Lindner bezifferte den Handlungsbedarf nach der jüngsten Steuerschätzung unter dem Strich auf einen einstelligen Milliardenbetrag, "der näher bei zehn als bei eins ist". Die Grünen misstrauen Lindners Zahlen.

Nach Angaben aus mehreren Ampel-Parteien wird es am Ende zum Haushalt vermutlich wieder Verhandlungen von Kanzler Olaf Scholz (SPD), Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) und FDP-Chef Lindner oder einer etwas größeren Runde geben müssen. Ob der Zeitplan gerissen wird, gilt in der Ampel nicht als ausgeschlossen. "Die Stimmung ist gar nicht gut, es gibt kein Vertrauen mehr", sagt das FDP-Regierungsmitglied. Vor allem Grüne und FDP beäugten sich sehr skeptisch. Aber auch das Rentenpaket der SPD ist bei den Liberalen umstritten. Im "Herbst der Entscheidungen", den Lindner ausgerufen hat, gab es noch nicht viele Entscheidungen.

"ALLES HÄNGT AN LINDNER"

SPD und Grüne machen Lindner immer wieder für Querschüsse und fehlendes Teamwork verantwortlich. Die Liberalen wollten raus aus der Ampel, heißt es beispielsweise bei den Grünen. Sie bräuchten aber einen Grund dafür. Der Streit über das Rentenpaket, den Haushalt oder das Bürgergeld könnten den liefern. "Es wird ein interessanter November." Bei der SPD heißt es: "Alles hängt an Lindner". Diese Einschätzung teile der Kanzler, der zuletzt genervt gewesen sei, dass die FDP am Dienstag parallel zum Treffen mit der Industrie im Kanzleramt einen eigenen Termin mit der Wirtschaft ansetzte.

Aber was will der Finanzminister? Kurz zusammengefasst: eine Kurswende in der Wirtschaftspolitik mit völlig anderen Schwerpunkten als SPD und Grüne - weniger Sozialstaat und weniger Subventionen. In der Ampel wird Lindner vorgeworfen, "keinen Bock" mehr zu haben. Der FDP-Chef will nach eigenen Aussagen die Koalition nicht platzen lassen, macht dies aber von Bedingungen abhängig: "Wenn sich alle an den Koalitionsvertrag halten wollen und an seinen Geist, dann habe ich jedenfalls keine Vorsätze, eine Regierungskoalition zu beenden", sagte er zuletzt im ZDF. "Aber klar ist, wenn das, was das Land braucht, dringlicher wird und das, was politisch erreichbar ist, kleiner wird, dann müssen alle sich die Karten legen."

LINDNER STICHELT: "KONZEPTIONELLE HILFLOSIGKEIT"

Die Sticheleien und gegenseitigen Vorwürfe in der Koalition haben jedenfalls zugenommen. Lindner wirft Scholz und Habeck vor, unabgestimmt in der Wirtschaftspolitik vorzugehen. "Das ist für sich genommen ein Problem." Dadurch entstehe Unsicherheit. Die Investitionszurückhaltung in der Wirtschaft gehe auch darauf zurück. Noch stärker kritisiert Lindner Habeck, der als Wirtschaftsminister zum Gesicht der Krise geworden ist angesichts womöglich zwei Jahren in Folge mit Rezession und wenig Anzeichen für eine Besserung.

Habeck stellte zuletzt ein Papier zur Modernisierung des Standorts und der Infrastruktur vor, das schuldenfinanziert einen mittleren dreistelligen Milliarden-Betrag kosten würde. Lindner nennt dies - wenig kollegial - konzeptionelle Hilflosigkeit und wirft Habeck vor, mit milliardenschweren Subventionen die Wirtschaft staatlich steuern zu wollen. "Die Finanzpolitik kann nicht reparieren, was die Wirtschaftspolitik versäumt", sagt Lindner. Es brauche einen Kurswechsel - unter anderem mit weniger Bürokratie, niedrigeren Steuern und einer anderen Energie- und Klimapolitik.

DER KANZLER KANN UND WILL WENIGER VERMITTELN

Dazu kommt, dass Kanzler Scholz weniger stark vermitteln kann als in den ersten zweieinhalb Jahren der Ampel. Angesichts schlechter Umfragewerte für die Ampel, SPD und ihn selbst drängen Partei und Fraktion, dass er klarere Kante gegenüber Grünen und FDP zeigen müsse. Das erklärt auch, weshalb Lindner und Habeck nicht zum Industriegipfel eingeladen wurden, heißt es. Der Kanzler wolle zeigen, dass er die Regierung führe. Er ärgert sich nach Angaben von Vertrauten über die Koalitionspartner, deren Verhalten er jahrelang verteidigt hat. Deshalb setzte Scholz ein deutsches Nein zu den EU-Strafzöllen gegen importierte Autos aus China in Brüssel durch - was die Stimmung in der Ampel nicht verbesserte. Plötzlich prescht auch der Kanzler selbst mit unabgestimmten Ideen wie einem Bundeszuschuss zur Decklung der Netzentgelte vor - obwohl er weiß, dass dies für Lindner die Haushaltsprobleme noch verschärfen würde.

VORBEREITUNGEN FÜR WAHLKAMPF LAUFEN

Bei den Grünen und in der SPD heißt es wiederum, der Druck auf Lindner aus seiner eigenen Partei sei groß. Lindner wolle vermutlich nicht selbst den Stecker ziehen. Er könnte es aber darauf anlegen, dass Scholz die FDP-Minister entlasse. Die Ampel sei im Prinzip durch, man bereite sich auf den Wahlkampf vor.

Die Grünen treffen sich Mitte November zu ihrem Parteitag in Wiesbaden - unmittelbar nach dem Showdown zum Haushalt. Bei dem Treffen wird sich zeigen, wie viel Beinfreiheit Habeck als wahrscheinlicher Kanzlerkandidat der Grünen bekommt. Er gilt in der Ampel als offener für Kompromisse als andere im Kabinett, immer wieder zulasten der Prinzipien seiner Partei. Bei den Grünen seien die Vorbereitungen für den Wahlkampf im Grunde abgeschlossen, heißt es aus der Partei. Beim Thema Migration, bei dem die FDP auf eine härtere Gangart drängt, könnte es zur Zerreißprobe für die Grünen und damit auch für die Ampel kommen.

Weil der Grad an Genervtheit gerade über die FDP und die trotz des Investitionsbedarfs als rigide empfundene Haushaltspolitik von Lindner auch bei den Sozialdemokraten stark gestiegen ist, brachte SPD-Generalsekretär Matthias Miersch bereits die Idee einer Minderheitsregierung ins Spiel. Der Wunsch nach Stabilität führe zwar zu Koalitionen. Dies sei aber keineswegs immer nötig, zeige ein Blick in andere Länder. Im Klartext: Sollte etwa die FDP ausscheiden, könnte Scholz mit oder ohne die Grünen einfach weiterregieren. "Wenn zuvor der Haushalt verabschiedet ist, wäre das auch kein Problem." Notfalls ließe sich sogar mit einer vorläufigen Haushaltsführung noch monatelang regieren. Viel Zustimmung bekam Miersch für diesen Gedanken allerdings nicht einmal in der SPD-Führung: Denn dann werde der Druck auf vorgezogene Neuwahlen sofort zu groß werden, heißt es dort.

(Mitarbeit von Holger Hansen und Alexander Ratz, redigiert von Sabine Wollrab. Bei Rückfragen wenden Sie sich an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)

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