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27.11.2025 /12:03:20
ANALYSE-Serbiens Russland-Kurs bremst EU-Erweiterung auf dem Westbalkan

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Experten fordern schnelle Aufnahme von Montenegro in die EU



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Auch Albanien einer der Vorreiter in der Region



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Russland-freundliches Serbien mit Rückschritten im Reformprozess



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Wadephul fordert klares Bekenntnis von Serbien zur EU-Politik





- von Alexander Ratz
Berlin, 27. Nov (Reuters) - Seit Jahrzehnten bereiten
sich die Länder des westlichen Balkans auf eine Aufnahme in die
Europäische Union vor. Montenegro und Albanien sind am weitesten
in dem Bemühen fortgeschritten, die Bedingungen für eine
Mitgliedschaft zu erfüllen, darüber sind sich Experten und die
EU einig. In Serbien dagegen, dem größten und wirtschaftlich
stärksten Land der sechs Beitrittskandidaten, gibt es
Rückschritte im Reformprozess. Die Frage ist nun ? soll die EU
Montenegro und Albanien bald aufnehmen, auch auf die Gefahr hin,
dass Serbien mit seinem Verbündeten Russland die Region weiter
destabilisiert? Experten und Politiker, mit denen Reuters
sprach, sagen ja. Denn das würde auch den Druck auf Serbien
erhöhen.

Die EU setzte sich nach den Schrecken der Kriege der 90er-Jahre bereits 2003 das Ziel, die Westbalkan-Länder Serbien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Albanien auf lange Sicht in die Staatengemeinschaft zu integrieren. In ihrem jüngsten Fortschrittsbericht von Anfang November bescheinigte die EU-Kommission Montenegro, die Beitrittsverhandlungen bis Ende 2026 abschließen zu können. Für Albanien stellte die Brüsseler Behörde dies für 2027 in Aussicht. Zu Serbien hieß es dagegen, dass sich das Reformtempo "erheblich verlangsamt" habe. Die Bundesregierung ist bemüht, alle Kandidaten bei der Stange zu halten, wie die Reise von Außenminister Johann Wadephul durch die sechs Länder vergangene Woche zeigte.

PLÄDOYER FÜR EINE SCHNELLE AUFNAHME

"Montenegro und Albanien sind aktuell die sogenannten Frontrunner. Sie machen ihre Hausaufgaben und sollten deshalb die konkrete Chance zur Aufnahme erhalten", fordert der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Adis Ahmetovic. "Wenn wir uns nicht um diese Länder kümmern, tun es andere, wie bereits China und Russland", sagt der 32-Jährige, der selbst seine familiären Wurzeln in Bosnien-Herzegowina hat. Auch die Grünen-Politikerin Chantal Kopf, die Wadephul zusammen mit Ahmetovic auf seiner Reise begleitet hat, wird deutlich: "Montenegro und Albanien sollten nicht unter der Politik des serbischen Regimes leiden, sondern in die EU aufgenommen werden, sobald sie alle Kriterien erfüllen."

Serbien erhebt allerdings den Anspruch, in einer ersten Aufnahmerunde in die EU dabei zu sein. Sollte also etwa Montenegro aufgenommen werden und Serbien nicht, wie würde die Regierung in Belgrad reagieren? Von den rund 600.000 Einwohnern Montenegros sind nach jüngsten Angaben des Statistikamts des Landes 33 Prozent ethnische Serben. Entsprechend gibt es Befürchtungen, Serbiens Präsident Aleksandar Vucic könnte darauf hinwirken, in Montenegro nach einem EU-Beitritt Unruhen anzustacheln. "Aufgrund der Bevölkerungsverhältnisse müsste Serbien nur mit den Fingern schnipsen und Montenegro wäre destabilisiert", sagt Markus Kaiser, Projektleiter Westlicher Balkan bei der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung in Belgrad. Auch in der Bundesregierung gibt es diese Bedenken.

Serbien ist einer der engsten Verbündeten Russlands in Europa und weigert sich bislang, die EU-Sanktionen gegen Moskau wegen des Angriffs auf die Ukraine mitzutragen. Er glaube zwar nicht, dass Russlands Präsident Wladimir Putin eine Art Masterstrategie für den Westbalkan habe, sagt der Politologe Vedran Dzihic der österreichischen Tageszeitung "Die Presse". "Er will einfach dem Westen einen Schlag versetzen, er will die EU-Erweiterung und vor allem die Nato-Erweiterung um jeden Preis verhindern", ist sich Dzihic sicher. "Er will stören, er will die Ressourcen des Westens binden." Das mache Putin mit Hilfe von Desinformation und mit Verbündeten wie Vucic oder dem bosnischen Serbenführer Milorad Dodik.

SERBIEN DERZEIT KEIN GLAUBWÜRDIGER KANDIDAT

Die EU sollte sich nicht von Serbien und damit indirekt von Russland den Kurs mit Blick auf die Aufnahme neuer Mitglieder vorgeben lassen, wie auch Ahmetovic betont. "In Zeiten des wachsenden Autoritarismus und Protektionismus muss die EU zeigen, dass sie die Kraft aufbringen kann, weiter zu wachsen." Tina Bories, bei der Denkfabrik Aspen Institute in Berlin zuständig für den Westbalkan und EU-Erweiterung, bezweifelt, dass Serbien derzeit ein glaubwürdiger Kandidat für einen EU-Beitritt ist: "Einschränkungen der Medienfreiheit, eine stark dominierte politische Landschaft und eine schwache Gewaltenteilung belasten die institutionellen Strukturen." Darüber hinaus weigere sich Serbien, sich in der Außen- und Sicherheitspolitik der EU anzugleichen. All dies "erschwert Serbiens Rolle in der Region und beeinflusst seinen Weg in Richtung EU-Mitgliedschaft negativ."

Außenminister Wadephul forderte nach einem Treffen mit seinem serbischen Kollegen Marko Duric ein "klares Bekenntnis" Belgrads zu den EU-Position in der Außen- und Sicherheitspolitik: Serbien müsse den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verurteilen. Duric betonte bei der gemeinsamen Pressekonferenz: "Serbien wünscht sich, möglichst bald ein EU-Mitglied zu werden." Aber eigentlich müsse Vucic das Bekenntnis ablegen, sagt SPD-Politiker Ahmetovic. Europa müsse "eine klare Antwort auf die Frage einfordern, in welche Richtung Serbien gehen möchte, zur EU oder Richtung Russland. Diese Antwort muss vor allem der Präsident liefern."

"IRGENDWIE MUSS ES MAL VORANGEHEN"

Experte Kaiser von der Friedrich-Naumann-Stiftung nennt noch einen weiteren Grund für eine baldige Aufnahme Montenegros und Albaniens in die EU - es würde Serbien unter Druck setzen. Denn wenn es zu dem Punkt käme, "dass Serben in Montenegro wegen der EU-Mitgliedschaft mehr Vorteile genössen als Serben in Serbien, dann könnten sie ins Nachdenken kommen". Die EU müsste nach seiner Ansicht viel mehr tun, um die reformistischen Kräfte in Serbien zu unterstützen, etwa die andauernden Proteste der Studenten und weiter Teile der Bevölkerung gegen die Belgrader Regierung. Mit Blick auf die EU-Aufnahme der beiden Frontrunner betont er: "Irgendwie muss es mal vorangehen, und das wäre ein Schritt, der auf jeden Fall Konsequenzen mit sich zöge."

(Bericht von Alexander Ratz. Redigiert von Sabine Wollrab. Bei Rückfragen wenden Sie sich an berlin.newsroom@tr.com)

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